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Noomi (*1937) und Hans Gantert (1934-2004)

Submitted by ottavio.clavuot on Fri, 09/22/2023 - 03:39

Noomi Hurwitz wurde 1937 als zweites Kind in eine jüdische, russisch-schweizerische Familie geboren. Der Grossvater väterlicherseits war vor dem Militärdienst in der Armee des Zaren aus Riga nach Deutschland geflohen, wo er in Dresden eine Aargauer Jüdin kennenlernte. Nach der Heirat lebte die Familie seit den 1890er Jahren in Luzern in bescheidenen Verhältnissen. Der Grossvater wirkte als Kantor und Religionslehrer. Der 1904 geborene Vater, Siegmund (+ 1994), studierte 1923-28 Zahnmedizin an der Universität Zürich und befreite sich aus dem streng orthodoxen Milieu. 1933 heiratete er in Zürich die Baslerin Lena Eisner (1902-65), deren Eltern, polnische Juden, um 1908 über Deutschland in die Schweiz eingewandert waren. Das junge Paar fühlte sich dem säkularen Zionismus verpflichtet, mit dem es in der jüdischen Wanderbewegung in Kontakt gekommen war, und trug sich zeitweilig mit dem Gedanken, nach Israel auszuwandern. Prägend wurde die Begegnung mit Carl Gustav Jung (1875-1961) und die Auseinandersetzung mit seiner Psychologie. Beide entwickelten eine tiefe Verehrung für Jung, zu dessen innerstem Kreis sie gehörten. So begann Siegmund Hurwitz später auch als Psychoanalytiker zu arbeiten. In den 1930er Jahren und während des Zweiten Weltkriegs unterstützte er jüdische Flüchtlinge bei der Beschaffung von Auswanderungspapieren, so dass im Haus der Familie immer viele Leute verkehrten. In den frühen 1950er Jahren waren es israelische Studenten, die Aufnahme fanden.

Noomi Gantert
Noomi Gantert, im Atelier vor ihrem Webstuhl mit „Ahnen“. Foto 2021. 

Bereits als Dreizehnjährige interessierte sich Noomi für die bildende Kunst. Während ihrer Gymnasialzeit an der Hohen Promenade fand sie unter Anleitung des antibürgerlichen Juristen und passionierten Malers Max Billeter (1900-80), in dessen Atelier am Rindermarkt sie 1953-56 jeweils am Mittwochnachmittag zeichnete und malte, zur Malerei. Angeregt fühlte sie sich auch durch die Werke und Tagebücher von Paula Modersohn-Becker (1876-1907). Als sich der Plan, nach Israel zu gehen, mit dem Ausbruch der Suez-Krise vorerst zerschlug, nahm sie 1956-58 ein Kunststudium an der Ecole des Beaux-Arts in Genf auf, das sie mit dem Diplom als Malerin und einem Preis abschloss. Hier lernte sie 1957 den deutschen Grafiker Hans Gantert kennen, mit dem sie schliesslich eine lebenslange Gemeinschaft verbinden sollte. 1958-60 lebte sie in Israel: Zunächst in Jerusalem, wo sie beim Religionswissenschaftler und Freund Walter Benjamins (1892-1940) Gershom Sholem (1897-1982) Aufnahme fand, Hebräisch lernte und allgemeinbildende Kurse für ausländische Studenten besuchte, dann in Tel Aviv, wo sie an einer Kunstschule studierte und an einer Volksschule Zeichnen unterrichtete. In beiden Institutionen konnte sie nicht Fuss fassen. So kehrte sie nach Europa zurück und vertiefte ihre Ausbildung in Paris an der Académie de la Grande-Chaumière. Wieder in Zürich, heiratete sie 1961 gegen den Willen der Eltern Hans Gantert.

Hans Gantert
Hans Gantert beim Zeichnen. Foto um 1980.

Hans Gantert wurde 1934 als ältestes von drei Kindern eines Bauernsohns aus Bonndorf im Schwarzwald geboren. Da der Vater den Hof nicht erben konnte, schlug er nach der Küferlehre eine Laufbahn als Berufssoldat ein. Bis zum Kriegsausbruch Korporal in der Kaserne von Konstanz, danach an der Front und schliesslich in sowjetischer Kriegsgefangenschaft, kehrte er 1948 als Kriegsinvalider zurück. So war der cholerische Vater kaum präsent und die Sorge um die in bescheidenen Verhältnissen in Konstanz lebende Familie oblag der aus dem Rheinland stammenden Mutter. Hans, der bereits als Kind gerne zeichnete, war viel bei seinen Verwandten in Bonndorf. Hier begegnete er dem Freiburger Maler, Zeichner und Radierer Hans Lembke (1895-1959), der seit 1939 im Ort lebte und ihn förderte. 1948 begann er eine Grafikerlehre in Konstanz. Gleichzeitig nahm er jede Gelegenheit wahr, um seinen Horizont zu erweitern. Prägend wurde für ihn der Kontakt zu dem von Kirchner, Liebermann und Jaeckel beeinflussten Maler und Sgraffiti-Künstler Hans Sauerbruch (1910-96), der sich nach seiner Entlassung aus der sowjetischen Kriegsgefangenschaft 1946 in Konstanz niedergelassen hatte. Nach dem Lehrabschlusss 1951 besuchte er die drei Jahre zuvor von Hans Lembke mitgegründete Kunsthandwerkerschule in Bonndorf und studierte an der Landeskunsthochschule in Hamburg, wo er unter anderem den wenig älteren Zeichner und Grafiker Horst Jansen (1929-95) kennen lernte. Studienreisen führten ihn nach Holland, Dänemark und Finnland, in späteren Jahren auch nach Italien, Frankreich und Spanien. Seit 1956 arbeitete er als Grafiker und Schriftenmaler in Zürich, zunächst im Atelier des Sgraffitimalers und Grafikers Anton Leuthold (1900-75), in den 1960er Jahren für die Leuchtschriften produzierende Zürcher Firma Gebrüder Reichert Söhne. Daneben wirkte er weiterhin künstlerisch. 1957 lernte er während eines Studienaufenthalts an der Ecole des Beaux-Arts in Genf Noomi Hurwitz kennen.

Hans Gantert Volkskunstkröte
Hans Gantert, Volkskunstkröte, Radierung und Aquatinta, 1974, 64 x 92 cm.

Mit der Gründung eines gemeinsamen Hausstands und der Geburt des ersten von drei Kindern begann für beide – bei weitgehend konventioneller Rollenteilung – eine neue Lebens- und Schaffensphase und zugleich eine einzigartige künstlerische Arbeitsgemeinschaft, über die Noomi rückblickend bemerkt: „Was immer [Hans] als Grafiker und Künstler und ich als Künstlerin taten – wir blieben im Gespräch und mischten uns gegenseitig ein.“ Nach einer Vorlage von Hans wob Noomi 1962 erstmals einen Wandteppich für die neue Wohnung. Während der folgenden zehn Jahre entwarf Hans dekorativ angelegte, grosse Bildteppiche für sie, die sie in enger Kooperation mit ihm umsetzte und dabei ihr künstlerisches und technisches Können weitgehend autodidaktisch schulte und erweiterte. So realisierte sie nach dem Konzept von Hans 1972 einen Wandteppich für das Lehrerzimmer der Oberrealschule (heute MNG Rämibühl). Ihren ersten Bildteppich nach eigenem Entwurf gestaltete Noomi inhaltlich und formal angeregt durch die Abbildung eines Sklavenschiffs in einem NZZ-Artikel über die Sklaverei in den USA 1974-76: Eine schwarz-weisse, geometrische Ordnung und reduzierte menschliche Figuren kombinierende, ornamental wirkende Komposition.

Noomi Gantert, Sklavenschiff
Noomi Gantert, Sklavenschiff, Kelimtechnik, Wolle auf Leinen, 506 x 180 cm, 1974-76. Bei der Vorlage handelt es sich um den von der Society for effecting the abolition of the slave trade 1788 zur Unterstützung ihres Anliegens herausgegebenen und seither immer wieder reproduzierten Druck, der die „Brooke“ aus Liverpool mit einer Sklavenladung zeigt.

Seither arbeitete sie nach eigenen Entwürfen und entwickelte ihre eigene Formensprache. Neben kleineren, experimentellen Teppichen gestaltete sie ausschliesslich Grossformate. So fertigte sie 1988 den Wandteppich für das Konferenzzimmer des MNG Rämibühl.

Noomi Gantert Entwurf
Noomi Gantert, Aquarellentwurf zum Wandteppich für das Konferenzzimmer des MNG Rämibühl, 1988.

Anregung sind ihr beim Weben immer wieder die spätmittelalterlichen Teppiche von Angers, in denen sich Form, Inhalt und Technik zum lebendigen Kunstwerk zusammengefunden haben. Wie für Hans so ist auch für Noomi die Welt des alltäglich Gegenständlichen – besonders die Natur – Ausgangspunkt für das künstlerische Schaffen. Während er dem Figürlichen – wenn auch verfremdet und ironisiert – verpflichtet blieb, machen bei ihr figurative Elemente zunehmend zeichenhaft reduzierten Eindrücken Platz als Ergebnis „intuitiv-wohlüberlegten“ Konzipierens und Webens. 1984-2004 gab Noomi im Rahmen des pädagogischen Grundjahrs der Lehrerausbildung ihr handwerkliches Können weiter. 

Noomi Gantert Keine Zeit
Noomi Gantert, Bildteppiche, Kelimtechnik, Wolle auf Leinen, in der Ausstellung „Keine Zeit“ im Helmhaus Zürich, 2017: Mitte: Kopfüber, 220 x 540 cm, 1996. Links: Spiegelungen, 230 x 300 cm, 1999. Rechts: Stroemungen/random walks, 233 x 344 cm, 2001.
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Noomi charakterisiert ihr künstlerisches Schaffen.

1965 ermunterte Noomi Hans, der sein künstlerisches und technisches Können sowie sein umfassendes und profundes kunsthistorisches Wissen immer gerne mit anderen teilte, die Ausbildung zum Zeichnungslehrer an der Kunstgewerbeschule Zürich aufzunehmen, die er 1967 mit dem Diplom abschloss. Bereits im folgenden Jahr wurde er als Hauptlehrer an die Oberrealschule (heute MNG Rämibühl) gewählt, wo er bis zur Pensionierung 1998 unterrichtete.

Hans Gantert Kohlhaldentanne
Hans Gantert, Tanne auf der Kohlhalde (Ebnet) bei Bonndorf, Bleistiftzeichnung, 276 x 201 cm, Halle MNG Rämibühl, 1977.

Parallel zum Unterricht setzte er seine künstlerische Tätigkeit fort – nach eigenen Worten „mit den Schwerpunkten grossformatige Zeichnung und Druckgrafik, daneben Malerei, Plakat und Wandbild. … Gegenstände, Gerät und Werkzeug sind mit Pflanzen und Tieren zusammen …  bevorzugte Motive. … Kröten und Frösche seit 1971, Hühner und Eier seit ca. 1974. Auch Wildsauen, Truthähne, Enten, Schlangen, Echsen, Fische und anderes Getier“.

Hans Gantert, Kürbis
Hans Gantert, Kürbis, Radierung und Aquatinta auf Velin, 37 x 48 cm, 1974.

Wie in Noomis künstlerischer Arbeit war auch für Hans die unbedingte Hingabe ans Handwerk zentral: Mit ungeheurer Akribie, technischer Rafinesse, präzisem Strich und Stich setzte Hans seine minutiösen Beobachtungen und Ideen in Zeichnungen und Radierungen um.

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Noomi liest eine Selbstcharakterisierung von Hans.

Seit 1972 engagierten sich Hans und Noomi in der GSMBA (Gesellschaft Schweizerischer Maler, Bildhauer und Architekten), die sich in diesem Jahr für Frauen geöffnet hatte, waren dadurch in der lebendigen Kunstszene der 1970er Jahre bestens vernetzt und erhielten immer wieder Gelegenheit auszustellen. Zu Beginn der 1990er Jahre wurde die Begegnung mit Hans Josephsohn (1920-2012) menschlich und künstlerisch wichtig für Hans und Noomi. O.C.

Hans Roth (1934-99), Architekt, Theologe und Entwicklungshelfer

Submitted by ottavio.clavuot on Tue, 09/13/2022 - 11:05

In eine katholische, ursprünglich aus dem Kanton Zug stammende Arbeiterfamilie geboren, wuchs Hans Roth an der Oberdorfstrasse in der Zürcher Altstadt auf. Nach der Matura an der Oberrealschule (heute MNG Rämibühl) 1954 trat er in den Jesuitenorden ein und studierte zunächst Alte Sprachen und Philosophie an den Ordensschulen in Feldkrich und in Pullach, bevor er sich 1961-66 an der ETH zum Architekten ausbilden liess und als Praktikant in Zürich, Dublin, Athen und Delhi berufliche Erfahrung sammelte. Es folgte ein Theologiestudium im englischen Oxon und im indischen Pune, wo er unter anderem einen jesuitischen Ashram baute. 1970-72 arbeitete er als Architekt in Bellinzona und Feldkirch. Als der Missionsprokurator der Schweizer Jesuiten zum 200. Todestag des Jesuitenmissionars Martin Schmid (1694-1772) die Restaurierung von San Rafael de Chiquitos, einer von diesem erbauten Missionskirche, lancierte, bat Roth um die Übertragung des Auftrags.

Hans Roth
Hans Roth misst zusammen mit dem leitenden Schnitzer die Vorzeichnung der Ornamente auf einer Säule für die Kirche von Concepción ein.

1691 nahmen die Jesuiten die Mission in der Chiquitania im heutigen Bolivien auf, nachdem die durch Sklavenjäger bedrängten sowie an Eisenbeilen für die Brandrodung interessierten Chiquitos um die Entsendung von Missionaren gebeten und die spanischen Autoritäten dem Vorhaben zur Sicherung der dünn besiedelten Urwaldregion gegen portugiesische Vorstösse zugestimmt hatten. So entstanden bis zur Ausweisung der Jesuiten aus dem spanischen Kolonialreich 1767 zehn bis heute bestehende Missionsdörfer, in denen die Missionare die verschiedenen Stämme der Chiquitania zusammenzogen und zur christlichen Nation der Chiquitanos verschmolzen.

Dobrizhoffer Paraguay
Die Karte von Paraguay zeigt die zehn 1767 bestehenden Jesuitenmissionen der Chiquitania. Martin Dobrizhoffer, Wien 1783.

Die nach dem Vorbild der Jesuitenreduktionen Paraguays (1609-1768) organisierten und auf rechtwinkligem Raster um einen zentralen Platz angelegten autonomen Dörfer prosperierten dank verbesserter landwirtschaftlicher und handwerklicher Techniken wirtschaftlich und wuchsen rasch.

Peramas Candelaria
Ansicht der Jesuitenmission Candelaria und Census der Reduktionen in Paraguay 1767. Die eingeschossigen Wohnhäuser mit Laubengängen hat der Kupferstecher als zweigeschossige Bauten mit Pilastern missverstanden. José Manuel Peramás, Faenza 1791.

1730 traf Martin Schmid, Spross einer einflussreichen Ratsherrenfamilie aus Baar im Kanton Zug, nach vierjähriger Reise in San Javier de Chiquitos ein. Schmid, der über eine solide musikalische Ausbildung und vielseitige praktische Begabung und Erfahrung verfügte, wurde mit dem Aufbau der Orchester, Chöre und Musikschulen der Missionsdörfer betraut. Zudem unterwies er Einheimische im Instrumentenbau, organisierte den musikalischen Spielplan des Kirchenjahrs und komponierte kirchliche Vokal- und Instrumentalmusik.

Chiquitano-Geige
Chiquitano-Geige mit geschnitztem Menschenkopf als Schnecke und alte Partitur.

Als 1745 im ganzen Missionsgebiet der Neubau der teilweise noch aus der Gründungszeit stammenden Kirchen und Missionarswohnungen, Schulen, Werkstätten, Garten und Friedhof umfassenden Pfarreizentren in Angriff genommen wurde, übernahm Schmid den Bau der Kirchen von San Rafael (1746-49), San Javier (1749-52) und Concepción (1752-55). Mit Unterstützung einheimischer Handwerker errichtete er sie nach dem Vorbild der Jesuitenkirchen in Paraguay und in Anlehnung an indianische Gemeinschaftshäuser als dreischiffige Holzskelettkirchen mit umlaufenden Laubengängen, Vorhalle, Adobemauern und Ziegeldach, die er mit Schnitzwerk, Malerei und Keramikornamenten in barocken Formen dekorierte und ausstattete.

San Javier de Chiquitos Portalfront
Das auf tief im Boden verankerten salomonischen Säulen ruhende Vordach der Vorhalle von San Javier schützt Reliefs und Malereien der aus Lehmziegeln errichteten Fassade.

Als Hans Roth 1972 eintraf waren die entvölkerten Dörfer und die Kirchen in einem baulich schlechten Zustand, da die Chiquitania und deren indianische Bevölkerung nach 1850 der Ausbeutung weisser Grossgrundbesitzer überlassen worden war, denen auch die seit 1931 hier wirkenden deutschsprachigen Franziskanermissionare wenig entgegenzusetzen hatten. In San Rafael, dessen Kirche 1972-80 niedergelegt und mit teilweise neu geschnitzten Hölzern wiedererrichtet wurde, erkannte Roth rasch die weitreichende gesellschaftliche, wirtschaftlich und kulturelle Bedeutung der Restaurierung der Kirchen: So half die Beschäftigung und die Ausbildung indianischer Arbeiter diesen, sich aus der Schuldknechtschaft zu befreien und eine eigene Existenz aufzubauen, stärkte das Bewusstsein von Gemeinschaft und kultureller Identität und erlaubte dank der Entdeckung und Rettung des bedeutendsten südamerikanischen Bestands alter Notenhandschriften die Wiederbelebung der barocken Missionsmusik.

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Pastoreta Ychepé Flauta. Das von einem unbekannten Chiquitano-Komponisten möglicherweise für Martin Schmid komponierte Werk ist in Santa Ana und San Rafael erhalten geblieben. Archivio Musical de Chiquitos.

So entwickelte sich aus der Begegnung mit dem bayerischen Franziskaner Antonio Eduardo Bösl (1925-2000), seit 1952 Missionar in der Chiquitania und seit 1973 Bischof in Concepción, eine lebenslange, fruchtbare Zusammenarbeit. Der baufreudige Bischof übertrug Roth die Restaurierung der Kirche in Concepción (1974-82) und 1975 den Ausbau und die Leitung der bischöflichen Werkstätten mit rund 140 Arbeitsplätzen, in denen auch Holz-, Metall- und Ziegeleifacharbeiter ausgebildet wurden, sowie schliesslich sämtliche Bauaufträge. 1976 trat Roth aus dem Jesuitenorden aus und gründete eine Familie in Concepción. In den folgenden Jahren restaurierte er mit einfachster Bautechnik und immer wieder selbst Hand anlegend neben San Javier (1987-93) vier weitere Missionskirchen sowie verschiedene Häuser im historischen Zentrum von Concepción.

San Javier de Chiquitos Innenraum
Im Innern von San Javier wird das tragende Holzskelett des Bauwerks bis auf die in die Adobewände eingemauerten Säulen sichtbar.

Gleichzeitig realisierte er in kirchlichem Auftrag rund 140 Neubauten: Kirchen, Kapellen und Pfarrhäuser, Schulen und Kindergärten, Schwesternhäuser und Spitäler sowie Wohn- und Gewerbebauten. In seinen Kirchenbauten nahm Roth die einheimische Tradition des Holzskelettbaus mit Adobe- oder Bruchsteinmauern auf und verband sie in sorgfältiger Abstimmung auf die liturgische Funktion, die klimatischen Bedingungen und die Umgebung mit Le Corbusiers Konzept der freien Grundrissgestaltung.

Ascension de Guarayos
In der 1983-87 als breitgelagerte, dreischiffige Halle erbauten Kirche von Ascensión de Guarayos hob Roth durch das Glas- und Fensterband zwischen Dach, Holzsäulen und Wänden die allein tragende Funktion der Pfeiler hervor.

Vielfach entwarf er auch das Mobiliar sowie die schmückenden Reliefs und Skulpturen, die von Schnitzern der bischöflichen Werkstätten ausgeführt wurden. Sein architektonisches Schaffen verstand er in der Nachfolge Schmids als Form der Verkündigung und des Gottesdiensts sowie einen über den rein technokratischen Ansatz klassischer Entwicklungshilfe hinausgehenden, auch die spirituelle Dimension umfassenden Beitrag zur Emanzipation der indianischen Bevölkerung. Von sozialistischer Seite wurden ihm daher Geldverschwendung und Kolonialismus vorgeworfen.

El Chochis
Das 1988-92 am Fuss eines gewaltigen Felsens errichtete Wallfahrtsheiligtum von El Chochís bettete Roth harmonisch in die Landschaft ein. In der zentralen, von Laubengängen erschlossenen Kirche ist der intime Innenraum für Meditation mit der Aussenkapelle und der Aussenbühne für Massenveranstaltungen auf quadratischem Grundriss zu einem kompakten Baukörper verschränkt.

Mit der Neuinterpretation des traditionellen Holzskelettbaus hat er zudem im regionalen Kontext stilprägend gewirkt. Die Erhebung der Missionskirchen der Chiquitania zum UNESCO-Weltkulturerbe 1990 bedeutete nicht nur eine Anerkennung seines Wirkens, sondern öffnete ebenso wie die von ihm angeregte, 1996 erstmals durchgeführte Biennale amerikanischer Renaissance- und Barockmusik die abgelegene Region gegenüber der Welt. Allerdings setzte damit auch eine gewisse Folklorisierung der chiquitanisch-jesuitischen Tradition ein. O.C.

La Asunta
In der 1995-96 errichteten Kirche von La Asunta erlauben die mit Marien- und Christusreliefs nach Roths Entwürfen geschmückten Flügeltüren die vollständige Öffnung der Halle auf zwei Seiten.      

Eugen Gomringer (geb. 1925), Textkünstler

Submitted by raphael.kost on Mon, 04/25/2022 - 04:20

Eugen Gomringer, oft als Vater der konkreten Poesie bezeichnet, wird am 20. Januar 1925 in Bolivien geboren, seine Mutter ist bolivianische Halbindianerin, sein Vater ein Schweizer Kautschuk-Kaufmann. Er wächst mit Spanisch als Muttersprache auf, wird aber der besseren Bildungschancen wegen als Zweijähriger in die Schweiz geschickt.

Seine Kindheitsjahre beschreibt Gomringer folgendermassen:

Nachdem ich 1927 den Umzug von Bolivien mit meinem Vater nach Herrliberg am Zürichsee gut verkraftet und im Jahr 1929 dank der Pflege und Liebe meiner Grosseltern auch den Umzug von Herrliberg nach Zürich an die Baurstrasse aufmerksam mitgemacht hatte, wurde ich 1930 ein Bub, dessen Spielplatz sich begrenzen lässt vom Tiefenbrunnen bis zum Zürichhorn und bis zum Stadttheater. So nahmen mich die Strassen und Wege entlang dem Seeufer am meisten in Anspruch. Dazu kam die Spielwiese an der Baurstrasse, just neben dem Haus, wo wir zur Miete wohnten. Ich hatte die Wiese im Ausmass eines Fussballplatzes meist zu meiner fast alleinigen Verfügung. Handballspiele fanden nur an Sonntagen statt. (...)

Mehr oder weniger süss verlief auch die ganze Schulzeit, zuerst im Seefeldschulhaus an der Seefeldstrasse mit wunderbaren Lehrern, dann für zwei Jahre Sekundarschule im Schulhaus Münchhalden. Nach acht Jahren bestand ich die Aufnahmeprüfung an die Oberrealschule an der Rämistrasse in Zürich, womit ein neues und ganz anders geartetes Kapitel in meinem Lebenslauf einsetzte.

(Gomringer 2014, 121ff.)

Eugen Gomringer am Poesiefestival Berlin (2018)
Eugen Gomringer am Poesiefestival Berlin (2018)
schweigen

Gomringers Zeit an der Zürcher Oberrealschule (heute MNG Rämibühl) in den 1940er Jahren ist stark geprägt durch den Aktivdienst in der Armee:

Die beste amtliche Auskunft über meinen Lebensabschnitt bis 1950 ist im Dienstbüchlein enthalten. Es ist wohl für manchen Schweizer zum verlässlichen Nachschlagewerk  geworden. Das Erstaunlichste mag an der Auflistung der Dienstleistungen sein, dass ich vor Beginn der Rekrutenschule am 7. Februar 1944 schon 118 Aktiv-Diensttage eingetragen bekommen hatte. Es waren die Tage und Wochen im Fliegerbeobachtungs und -meldedienst, abgekürzt FLBMD. Dieser Dienst begann mit einem Einführungskurs am 31. März 1941. Da war ich gerade sechzehn Jahre jung. Der Meldedienst bestand aus einer Gruppe von zehn Schülern des Gymnasiums und der Oberrealschule. Der Gruppenführer war einer der ihren. Arbeitsort war ein Aussichtsturm oder sonst ein geeigneter Aussichtsposten im Gelände gegenüber den badischen oder schwäbischen Ortschaften entlang des Rheins. (…) Wir Schüler waren Selbstversorger und mussten jeden Tag beim Nachbarn, einem Bauern, Milch holen. Oft wurden wir dort von der Familie eingeladen und wenn es am Abend war, sahen wir den Sternenhimmel auf dem Rückweg durch Wald und Flur durch einen Schnaps etwas vergrössert.

Ein Dienstabschnitt dauerte jeweils zwischen zehn und vierzig Tagen, je nachdem, wie wir und neben der Schulzeit und anderen Diensten freistellen konnten. Die Schüler der fast schon kriegstauglichen Jahrgänge wurden mehrfach beansprucht und manche Unterrichtsstunde fiel zusätzlich aus, weil Rektor und Lehrer wichtige Artillerieoffiziere waren. Neben dem FLBMD gab es auch noch den freiwilligen militärischen Vorunterricht, der so streng ausgeführt wurde, dass es mir einmal beinahe zur Flucht in die deutsche Wehrmacht gereicht hat.

(Gomringer 2014, 123f.)

In seinem berühmten Gedicht "schwiizer" (1973) charakterisiert Gomringer die Eidgenossen auf pointierte Art und Weise:

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Mit 19 Jahren ist Gomringer Leutnant und will Instruktionsoffizier werden. In Bern und Rom studiert er Volkwirtschaftslehre, Kunst- und Literaturgeschichte. Er lernt die lokalen Kulturszenen in Bern und Zürich kennen und wird später beauftragt, kurze Texte und Essays für Künstlerbücher und Ausstellungsrezensionen zu schreiben.

ping pong

Zu Beginn der 50er Jahre beschliessen Gomringer und seine Freunde Marcel Wyss und Dieter Roth, die neue Zeitschrift Spirale herauszugeben, worin bildende Kunst, Grafik, Architektur und Poesie präsentiert und diskutiert werden soll. Als 1953 die erste Ausgabe erscheint, würdigt Gomringer diesen Anlass mit dem Gedicht «Ciudad» (öfter «Avenidas» genannt). Dieses Gedicht wird oft als Gomringers erste veröffentlichte Konstellation bezeichnet, die auf die Verwendung von Verben und eine klassische syntaktische Struktur verzichtet.

1954 bewirbt sich Gomringer erfolgreich um die Stelle des Sekretärs von Max Bill an der Hochschule für Gestaltung in Ulm und veröffentlicht in der NZZ eine erste Fassung seines Manifests «Vom Vers zur Konstellation», worin er die zentralen Ideen einer neuen, nichtlinearen Poesie beschreibt:

an der stelle des verses tritt die konstellation: die gruppe aus worten. an stelle der syntax genügt es, zwei, drei oder mehrere worte wirken zu lassen, die äusserlich vielleicht unverbunden und mit leichter, zufälliger hand hingespielt erscheinen, bei näherer betrachtung (falls die anspringende wirkung eines wortes an und für sich nicht genügen sollte) aber zu zentren eines kräftefeldes, zu markierungen eines spielraumes werden.

(Eugen Gomringer: vom vers zur konstellation, in: NZZ, Sonntagsausgabe Nr. 1879, 36.)

Max Bill, Architekt, Designer und Autor, der als einer der einflussreichsten Figuren der Schweizer Grafikdesignerszene galt, prägte Gomringers Werk und Leben massgeblich. Vor allem Max Bills Überlegungen zur konkreten Kunst beeinflussten Gomringers Vorstellungen von einer neuen Form der Poesie deutlich.

kein fehler im system

In den 1960er Jahren arbeitet Gomringer als Werbefachmann in der Industrie. 1962 wird er Geschäftsführer des Schweizerischen Werkbundes. Rund 30 Jahre lang textet Gomringer, inspiriert von konkreter Poesie, die Werbung der Warenhauskette ABM (Au Bon Marché). Von 1977-90 ist er Professor für Theorie der Ästhetik an der Kunstakademie Düsseldorf.

Seit 1967 wohnt er im bayrischen Rehau, wo er 2000 das Institut für Konstruktive Kunst und Konkrete Poesie (IKKP) gründet. R.K.

William Dunkel (1893-1980), Architekt

Submitted by christian.villiger on Sat, 04/16/2022 - 06:51

Als Sohn eines Auslandschweizers in New Jersey geboren, wuchs William Dunkel in Buenos Aires und Lausanne auf. Nach dem Studium in Dresden 1912-17 kam er als Maler, Reklamezeichner und Architekt in Düsseldorf in Kontakt mit Paul Klee, Otto Dix, Max Liebermann und Oskar Kokoschka. 1923 eröffnete er ein eigenes Architekturbüro und erlangte durch verschiedene Wettbewerbserfolge im Rheinland und Ruhrgebiet, wie etwa durch das Brückenkopfgebäude Rheinpark in Düsseldorf (1926), Bekanntheit.

William Dunkel Rheinpark

Expressive Kohlezeichnung des Wettbewerbsprojekts zum Brückenkopfgebäude des Rheinparks in Düsseldorf, mit dem William Dunkel 1926 den 1. Preis gewann.

Als Professor 1929 nach Zürich berufen, unterrichtete er bis 1959 an der ETH und entwarf zahlreiche Bauten in der Schweiz und im Ausland, so zum Beispiel das Stadion Letzigrund in Zürich (1957-58) oder die National Bank of Iraq in Bagdad (1954).

Stadion Letzigrund
Das von William Dunkel und Justus Dahinden erbaute Zürcher Stadion Letzigrund. Foto um 1958.

Zu seinen Studenten zählten unter anderem Max Frisch und Jakob Zweifel. Dunkel, ein undogmatischer Vertreter des Neuen Bauens, verstand sein architektonisches Schaffen ähnlich wie Le Corbusier primär als künstlerischen Akt und blieb Zeit seines Lebens auf Distanz zu Rationalisten wie Walter Gropius oder Mies van der Rohe.

William Dunkel
William Dunkel. Foto 1953.

Dies wird am Geschäftshaus „Rämibühl“ wie auch an seinem 1961 vom Volk verworfenen Projekt für das neue Zürcher Stadttheater (Opernhaus), das sich an Alvar Aaltos Theater in Essen orientierte, deutlich. O.C.

William Dunkel Stadttheater Zürich

Modell des 1961 erstprämierten Wettbewerbsprojekts von William Dunkel zum Neubau des Zürcher Stadttheaters.   

Othmar H. Ammann (1879-1965), Ingenieur und Brückenbauer

Submitted by ottavio.clavuot on Thu, 03/10/2022 - 05:38

In Feuerthalen als Sohn eines Schaffhauser Hutfabrikanten geboren, studierte Othmar Ammann nach dem Besuch der Industrieschule in Zürich (heute MNG) 1897-1902 Bauingenieurwesen am Eidgenössischen Polytechnikum (heute ETH). Bei Brückenbaufirmen in Brugg und Frankfurt sammelte er erste praktische Erfahrungen, bevor er 1904 in die USA reiste, um dort seine Kenntnisse zu vertiefen. In New York fand er sofort eine Anstellung als Assistant Engineer für mehrere Eisenbahnbrücken im Ingenieurbüro von Joseph Mayer. Das rasante Bevölkerungswachstum der aufstrebenden amerikanischen Wirtschaftsmetropole und die sich abzeichnende Motorisierung des Strassenverkehrs führten zu einer gewaltigen Nachfrage nach Infrastrukturbauten – Eisenbahntrassen, Strassen, Brücken, Tunnels.

New York Brückenkarte
New York. Brücken Gustav Lindenthals: A Queensboro Bridge (1901-09), B Hell Gate Bridge (1912-16). Bauten Othmar Ammanns: 1 Goethals Bridge (1927-28), 2 Outerbridge Crossing (1927-28), 3 Bayonne Bridge (1928-31), 4 George Washington Bridge (1927-31), 5 Triborough Bridge (1929-36), 6 Bronx Whitestone Bridge (1937-39), 7 Throgs Neck Bridge (1957-61), 8 Verrazano Narrows Bridge (1959-64), 10 Lincoln Tunnel (1934-37), 10 Horace Harding Expressway (1957).
Hell Gate Bridge (1901-09).

In den folgenden Jahren arbeitete Ammann bei verschiedenen Stahlbaufirmen in Harrisburg, Chicago und Philadelphia. 1907 beauftragte ihn Frederic C. Kunz, neben Joseph Mayer einer der Spezialisten für Brücken mit grossen Spannweiten, mit der Bearbeitung der Werkpläne der vom österreichisch-amerikanischen Ingenieur Gustav Lindenthal (1850-1935) entworfenen Queensboro Bridge über den East River und delegierte ihn zur Untersuchung des Einsturzes der im Bau befindlichen Quebec Bridge über den Sankt-Lorenz-Strom. Der mustergültige Bericht empfahl Ammann für den Wiederaufbauentwurf der Brücke. 1912 stellte ihn Gustav Lindenthal, der damals bedeutendste Brückenbauer der USA, als stellvertretenden Chefingenieur ein und betraute ihn mit der Planung der Hell Gate Bridge über den East River, der mit 300 Metern Spannweite damals längsten Stahlfachwerkbogenbrücke. .

New York Hell Gate Bridge
Hell Gate Bridge (1901-09).

Nach dem kriegsbedingten Einbruch der Bautätigkeit 1917-19 arbeitete er an Lindenthals Projekt einer gigantischen, zweistöckigen Eisenbahn- und Strassenbrücke über den Hudson zwischen New Jersey und der 57. Strasse Manhattans. Da Ammann zur Überzeugung gelangte, dass Midtown Manhattan den Verkehr nicht aufnehmen könnte und der Bau nicht finanzierbar sei, kam es 1923 zum Bruch mit Lindenthal.

Lindenthal Brückenprojekt
Zeichnung der von Gustav Lindenthal geplanten zweistöckigen Brücke mit 20 Strassenspuren und 12 Eisenbahngeleisen. New York Tribune 14. August 1921.

In den folgenden zwei Jahren plante und lobbyierte Ammann in Eigenregie für das Projekt einer Hängebrücke auf der Höhe der 179. Strasse, die mit 1067 Metern Länge alle bisherigen Hängebrücken um mehr als das Doppelte übertreffen sollte. Für das bei Hängebrücken grosser Spannweite schwierige Problem der Versteifung des Tragwerks entwickelte er die Idee, Stabilität durch Gewicht und Massenträgheit von Aufhängung und Fahrbahn statt durch zusätzliche Versteifungen zu erreichen. Dadurch konnten gleichzeitig Material, Gewicht und Kosten eingespart und Spannweiten massiv erhöht werden. Dies entsprach ganz Ammanns Ideal grösst-möglicher Einfachheit, Funktionalität und dadurch auch höchster ästhetischer Qualität. 1925 konnte er sich mit seinem Projekt durchsetzen: Er wurde zum Chefingenieur der Port Authority of New York and New Jersey ernannt, der für die Infrastruktur verantwortlichen Behörde. In dieser Stellung begann er 1927 den Bau der George Washington Bridge. Als der Ausbruch der Weltwirtschaftskrise nach 1929 Einsparungen erzwang, verzichtete er auf die ursprünglich geplante Verkleidung des Stahlfachwerks der Brückenpfeiler mit Betonplatten. Nicht zuletzt dadurch wurde das 1931 vom Gouverneur von New York, dem späteren US-Präsidenten Franklin Delano Roosevelt, eingeweihte Bauwerk zur stilbildenden Ikone des modernen Brückenbaus. 

New York George Washington Bridge
George Washington Bridge (1927-31) im ursprünglichen Zustand. 1962 erweiterte Amman die Brücke um ein von Anfang an optional vorgesehenes unteres Fahrbahndeck.

Gleichzeitig mit der George Washington Bridge baute Ammann die Goethals Bridge, die Outerbridge Crossing und die Bayonne Bridge, die mit 504 Metern Länge damals längste Stahlfachwerkbogenbrücke. Sein Wissen und seine Erfahrung fasste er in einem Buch zusammen, das rasch zum Standardwerk des Brückenbaus wurde.

New York Bayonne Bridge
Bayonne Bridge (1928-31).

Ab 1934 fungierte Ammann auch noch als Chefingenieur der Triborough Bridge and Tunnel Authority unter Robert Moses (1888-1981), der in dieser Zeit zum bedeutendsten Stadtplaner New Yorks aufstieg. Moses hatte bereits in den 1920er Jahren angefangen ein System von Parkways um New York herum anzulegen und begann nun die Umgestaltung New Yorks zu einer autogerechten Stadt mit dem Bau von Stadtautobahnen und Brücken, denen teilweise ganze Stadtquartiere weichen mussten, umzusetzen. Für ihn plante Ammann unter anderem die Triborough und die Bronx Whitestone Bridge.

Ammann und Moses 1962
Othmar Amman (links) und Robert Moses im Jahr 1962.

Auch ausserhalb New Yorks war Ammann gefragt: So war er etwa 1931-37 als Berater auch massgeblich am Entwurf der Golden Gate Bridge in San Francisco beteiligt. Nach der Pensionierung 1939 tat er sich 1946 mit dem Betoningenieur Charles S. Whitney zusammen und gründete das weltweit tätige Büro Ammann & Whitney. Im Auftrag von Robert Moses realisierte der inzwischen in den Achtzigern Stehende 1959-64 die Verrazano Narrows Bridge zwischen Staten Island und Brooklyn. Mit dieser eleganten Brücke, deren Spannweite von 1298 Metern die der Golden Gate Bridge noch übertraf, krönte Ammann sein die städtebauliche Entwicklung New Yorks prägendes Wirken. O.C.

New York Verazzano Narrows Bridge
Verrazano Narrows Bridge (1959-64).
Video file
Spezialreportage der Schweizer Filmwochenschau zur Eröffnung der Verrazano Narrows Bridge vom 11. Dezember 1964.

Chiodera & Tschudy (1878-1908), Architektengemeinschaft

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Alfred Chiodera (1850-1916), in Mailand als Sohn eines Kaufmanns geboren, besuchte nach der Übersiedelung der Familie in die Schweiz das Gymnasium in St. Gallen. 1868-72 studierte er am Polytechnikum in Stuttgart Architektur. Danach unternahm er 1873/4 eine Studienreise nach Italien, wo er sich bei Giuseppe Mengoni (1829-77), dem Erbauer der Galleria Vittorio Emanuele in Mailand, mit der italienischen Neurenaissance und Eisen-Glas-Konstruktionen vertraut machte. 1875 liess er sich in Zürich nieder, wo er im Büro des Semper-Schülers Heinrich Ernst (1846-1916) Theophil Tschudy (1849-1911) kennenlernte. Dieser hatte als Sohn eines Mühlenbesitzers im aargauischen Mumpf nach dem Besuch der Kantonsschule in Aarau 1867-70 am Polytechnikum (heute ETH) bei Gottfried Semper studiert und anschliessend in Davos sowie 1872/73 in Budapest gearbeitet. 1878 gründeten Chiodera und Tschudy eine eigene Firma, die sie bis 1908 gemeinsam führten. Chiodera, der mit Maler Arnold Böcklin (1827-1901) befreundet war, selbst auch malte und leidenschaftlich an der Entwicklung eines Luftschiffs tüftelte, war im Unternehmen hauptsächlich für das Künstlerische zuständig, während sich Tschudy mehr mit den technischen Fragen beschäftigte.

Villa Patumbah
Die Gartenfront der Villa „Patumbah“ wirkt mit ihrer bunten Mischung von Formen, Farben und Materialien fast wie ein historistisches Musterbuch und erhält dadurch den vom Bauherrn gewünschten exotischen Charakter.

In den 30 Jahren gemeinsamen Wirkens machten Chiodera & Tschudy den Stilwandel vom Historismus zum Jugendstil mit. In ihren Bauten kombinierten sie zum Teil sehr originell verschiedene Stilformen und die unterschiedlichsten Materialien: Naturstein, Ziegel, Verputz, Keramik, Eisen, Glas und Holz.

Das breite Spektrum ihrer Bauten umfasst neben Villen, wie der für den auf Sumatra reich gewordenen Tabakpflanzer Karl Grob-Zundel gestalteten Villa Patumbah an der Zollikerstrasse 128 (1883-85) oder Chioderas eigenes neubarockes Schlösschen an der Rämistrasse 50 (1896/97), auch Wohn- und Geschäftshäuser, wie jene am Bleicherweg 37-47, sowie Restaurant-, Hotel- und Theaterbauten, wie den Wohn- und Theaterkomplex „Zum Pfauen“, das Katholische Gesellenhaus oder das Palace-Hotel in St. Moritz (1892-96), Ausstellungsbauten, wie den Keramikpavillon an der Zürcher Landesausstellung 1883, und Sakralbauten, wie die Synagoge an der Nüschelerstrasse 36 (1884). O.C.

Bleicherweg 37-47
Hinter dem grossen Fenster des Dachaufbaus der vom Jugendstil geprägten Wohn- und Geschäftshäuser am Bleicherweg hat Alfred Chiodera sein Atelier eingerichtet.
Synagoge Löwenstrasse
Die Synagoge ist wie damals üblich zur Vergegenwärtigung der Ursprünge des Judentums im Orient im sogenannt maurischen Stil errichtet worden.

Ulrich Wille (1848-1925), Instruktor, Publizist und General

Submitted by ottavio.clavuot on Fri, 01/28/2022 - 05:17

Ulrich Wille wurde in Hamburg in eine wohlhabende Familie aus dem Kaufmanns- und Reedermilieu geboren. Der Vater François Wille (1811-96), ein überzeugter Demokrat, war journalistisch und politisch tätig, die Mutter Eliza Sloman (1809-93) verfasste Gedichte und Prosa. Nach dem Scheitern der Revolution 1848/49 emigrierte die Familie und erwarb 1851 das Landgut „Mariafeld“ in Feldmeilen. Hier wuchs Ulrich Wille in einem offenen Haus auf, das als politischer und kultureller Treffpunkt Gäste wie Conrad Ferdinand Meyer, Gottfried Semper, Richard Wagner und Gottfried Keller frequentierten.

Feldmeilen Landgut Mariafeld
Landgut „Mariafeld“ in Feldmeilen. Postkarte.

1865-69 studierte er in Zürich, Halle und Heidelberg Recht. Nach dem deutsch-französischen Krieg 1870/71, entschloss er sich Instruktionsoffizier der Artillerie zu werden. Ausbildungsgänge in einem preussischen Artillerieregiment, an der Artillerie- und Ingenieursschule in Berlin sowie an der Eidgenössischen Instruktorenschule bereiteten ihn auf die berufliche Tätigkeit in Thun ab 1872 vor. Im gleichen Jahr heiratete er Clara von Bismarck (1851-1946), die Tochter des württembergischen Generalleutnants Friedrich Wilhelm Graf von Bismarck (1783-1860). Neben dem Dienst auf dem Waffenplatz engagierte sich Wille publizistisch für die angesichts der Technisierung des Krieges erforderliche Neuausrichtung der Militärinstruktion nach preussisch-deutschem Vorbild: Erziehungsdrill und strenge Führung sollten Offiziersautorität und unbedingte Soldatendisziplin stärken und dadurch die Milizarmee kriegstüchtig und die Gesellschaft im Wettbewerb der Völker überlebensfähig zu machen.

Audio file
Ulrich Wille zur Rolle von Disziplin und Drill.

1883-92 wirkte er als Oberinstruktor der Kavallerie. Während dieser Zeit wohnte er einige Jahre in der Villa „Belmont“ an der Rämistrasse. Nach der Beförderung zum Waffenchef der Kavallerie 1892 spitzte sich der Konflikt zwischen Wille und den Vertretern des traditionellen Verständnisses der Milizarmee als bewaffnete Gemeinschaft freier Bürger zu. Schliesslich schied Wille 1896 als Berufsmilitär aus und wurde publizistisch aktiv. Er übernahm 1901 die Redaktion der „Allgemeinen Schweizerischen Militärzeitschrift“ und wirkte seit 1903 als Dozent, 1907-12 als Professor für Militärwissenschaft am Eidgenössischen Poytechnikum (ab 1905 ETH). Damit einher ging die Durchsetzung seiner Ausbildungskonzeption in den militärischen und politischen Führungszirkeln. So erhielt er, 1904 zum Korpskommandanten ernannt, die Gelegenheit seine Vorstellungen umzusetzen, die 1907/08 im Militärorganisationsgesetz und den Ausbildungszielen der Armee auch offiziell verankert wurden. 1912 wurde ihm die Leitung der „Kaisermanöver“ anlässlich des Staatsbesuchs Wilhelms II. übertragen.

Kaisermanöver 1912
Korpskommandant Ulrich Wille (ganz rechts) neben Kaiser Wilhelm II. mit schweizerischen und deutschen Offizieren bei den Kaisermanövern im St. Gallischen Kirchberg 1912.

Nach dem Ausbruch des 1. Weltkriegs setzte sich der deutschfreundliche Wille gegen Theophil Sprecher von Bernegg, den eigentlichen Favoriten des Parlaments, dank bundesrätlicher Unterstützung in der Generalswahl am 3. August 1914 durch. In den folgenden Jahren trieb er die überfällige waffentechnische Modernisierung der Armee voran, während er das Truppenaufgebot für die Grenzbesetzung der Bedrohungslage entsprechend auf möglichst tiefem Niveau hielt. Im Soldatentum moralisch geformte Männlichkeit und staatsbürgerlicher Pflichterfüllung sehend, zeigte er wenig Verständnis für die sich während des Krieges verschärfenden sozialen und wirtschaftlichen Nöte breiter Bevölkerungskreise. Zudem verstärkte er durch seine die Neutralität verletzende Begünstigung der Mittelmächte die Spannungen zwischen der West- und der Deutschschweiz.

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Ulrich Wille zum Wehrwesen als Volkserziehung.
General Ulrich Wille
General Ulrich Wille. Postkarte 1914.

Seit 1917 liessen Versorgungsengpässe und Inflation die Arbeitskämpfe und den Unmut in der Truppe eskalieren, heizten die Oktoberrevolution in Russland, die klassenkämpferischen Parolen der SPS, die sozialen und wirtschaftlichen Forderungen des Oltener Aktionskomitees und die beschränkte Reformbereitschaft des bürgerlichen Bundesrats die innenpolitischen Spannungen an. Als Ende September/Anfang Oktober 1918 die Zürcher Bankangestellten mit Unterstützung der Arbeiterunion streikten und nach dem Zusammenbruch der Mittelmächte einen Monat später Deutschland am Rand der Revolution stand, drängten die Schweizerische Bankiervereinigung und Wille den zögernden Bundesrat zur militärischen Besetzung der Städte Zürich und Bern mit Kavallerie und Infanterie. Was der präventiven Einschüchterung dienen sollte, löste einen Proteststreik in 19 Ortschaften der Schweiz aus, den die Zürcher Arbeiterunion in eigener Regie weiterführen wollte, so dass sich das überrumpelte Oltener Aktionskomitee am 11. November gezwungen sah, einen unbefristeten Landesstreik auszurufen. Nach einem Ultimatum des Bundesrats brach das Oltener Aktionskomitee den Streik am 14. November bedingungslos ab, um eine Gewalteskalation zu verhindern. Für den folgenden Tag ordnete Wille als nochmalige Machtdemonstration trotz der grassierenden „Spanischen Grippe“ ein Defilee der Ordnungstruppen in Zürich an. Einen knappen Monat später trat er als General zurück. O.C.

Landesgeneralstreik Defilee
Defilee der Ordnungstruppen vor General Ulrich Wille und dem Ortskommandanten Oberstdivisionär Emil Sonderegger auf dem Mythenquai am 15. November 1918.

Ricarda Huch (1864-1947), Historikerin und Schriftstellerin

Submitted by ottavio.clavuot on Fri, 01/28/2022 - 05:15

In Braunschweig als Kaufmannstochter geboren, kam Ricarda Huch 1887 wie andere junge Frauen nach Zürich, um hier ein ihnen in der Heimat verwehrtes Studium aufzunehmen.

Ricarda Huch
Ricarda Huch. Foto um 1914.

Mit zwei ihrer Schicksalsgenossinnen verband sie eine lebenslange Freundschaft: Marie Baum (1874-1964) aus Danzig, die am Polytechnikum (heute ETH) Chemie studierte und die Deutsche Demokratische Partei 1919 in der Nationalversammlung in Weimar, danach im Reichstag vertreten sollte, sowie Marianne Plehn (1863-1946) aus Lubochin bei Schwetz (heute Swiecie) an der Weichsel, die in Zoologie abschloss und 1914 die erste deutsche Professorin in Bayern werden sollte. 1895-96 wohnten die drei als Untermieterinnen im „Schanzenberg“

Maria Baum
Marie Baum.
Marianne Plehn
Marianne Plehn. Foto 1914.

Nachdem Ricarda Huch 1891 an der Universität in Geschichte und Germanistik mit dem Doktorat abgeschlossen hatte, unterrichtete sie 1893-96 an der Zürcher Töchterschule. Daneben begann sie eine intensive schriftstellerische Tätigkeit als Autorin historischer Darstellungen und Romane zu entfalten und wirkte im Lesezirkel Hottingen mit, bei dem sie auch in späteren Jahren wiederholt Gast war. 1896-1912 durchlebte sie eine bewegte Zeit: zwei Ehen, Familiengründung, längere Aufenthalte in Wien, Triest, München und Braunschweig. Nach der Scheidung von ihrem zweiten Mann lebte sie 1912-27 weitgehend in München. Hier entstanden viele ihrer wichtigen Bücher, so z.B. eine Biografie Michail Bakunins. 1927 übersiedelte sie nach Berlin. Seit 1926 Mitglied der Preussischen Akademie der Künste, verweigerte sie im Frühling 1933 die geforderte Loyalitätserklärung gegenüber der nationalsozialistischen Regierung und trat aus Protest gegen den Ausschluss Alfred Döblins aus der Akademie aus. Obwohl sie dem Nationalsozialismus kritisch gegenüberstand und in Jena, wo sie seit 1935 bis zu ihrem Tod lebte, zahlreiche Kontakte zu Kritikern des Regimes unterhielt, genoss sie die Protektion führender Nationalsozialisten. Ihr letztes Projekt, die Erinnerung an den Widerstand gegen Hitler in Biografien wachzuhalten, konnte sie nur noch für die Weisse Rose und die Geschwister Scholl verwirklichen. O.C.

Katholisches Gesellenhaus, Wolfbachstrasse 15

Submitted by ottavio.clavuot on Thu, 12/16/2021 - 03:48

Deutschen Vorbildern entsprechend liess der Katholische Gesellenverein 1888-89 das erste Gesellenhaus der Schweiz nach Plänen von Alfred Chiodera und Theophil Tschudy errichten, um hundert wandernden Handwerksburschen Kost und Logis anbieten zu können. Finanziert wurde der fünfgeschossige, L-förmige Bau durch Mitgliederbeiträge, Spenden und einen Kredit der Schwyzer Kantonalbank. Unter dem mächtigen Walmdach befand sich der in vorne und oben offene Kojen unterteilte Schlafsaal. Die unteren Geschosse nahmen Büros, Fremdenzimmer, Küche, Speisesaal, Restaurant, Aufenthaltsräume, Kegelbahn und den zweigeschossigen Festsaal mit ionischen Kolossalsäulen und Emporen auf.

Wolfbachstrasse 15 Festsaal
Der zweigeschossige Festsaal mit Bühne war zur Bauzeit einer der grössten Säle Zürichs. Foto um 1910.

Gegen die Wolfbachstrasse ist die historistische Sichtbacksteinfassade mit kräftigem Bruchsteinsockel, prunkvollem Neurenaissance-Portal und Pilasterordnung mit grosszügigen Bogenfenstern in den Obergeschossen repräsentativ gestaltet. Elemente des Schweizer Holzstils schmücken die Lukarnen.

Wolfbachstrasse 15
Im Gegensatz zur Fassade gegen die Wolfbachstrasse sind die übrigen Gebäudefronten verputzt und ohne Schmuck.

Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung Zürichs nach der Bundesstaatsgründung 1848 und der Garantie der Glaubensfreiheit durch die neue Bundesverfassung nahm die Zuwanderung aus katholischen Gebieten der Schweiz und des Auslands sprunghaft zu. Die Lebensbedingungen der Arbeitsuchenden waren oft schwierig, ganz besonders für die wandernden Gesellen. So wurde 1863, angeregt durch die vom Kölner Priester Adolph Kolping (1813-65) 1849 initiierte religiöse und sozialreformerische Gesellenbewegung, der Katholische Gesellenverein (heute Kolpinghausverein Zürich) in Zürich gegründet. Durch Bildung und religiös-soziale Bindung sollten gesellschaftlicher Abstieg, Entfremdung vom Christentum und sozialistisch-kommunistische Beeinflussung der wandernden Gesellen verhindert werden. Vor der Errichtung der Liebfrauenkirche (1893/94) und der Sankt Antoniuskirche (1907) war das Gesellenhaus zudem das kirchliche Zentrum für die rund 17’000 Stadtzürcher Katholiken rechts der Limmat. Der rund 700 Personen fassende Festsaal diente der katholischen Diaspora für Bazare, Ausstellungen, Tagungen, Feiern und der untere Saal 1891-1907 auch als Kirchenraum.

Wolfbachstrasse 15 Kapelle
Der Altar im unteren Saal des Gesellenhauses, der 1891-1907 als Kapelle dienste.

Mit dem Ausbruch des 1. Weltkriegs 1914 brach die Belegung des Gesellenhauses ein, da die ausländischen Gesellen in ihre Heimat zurückkehrten. Nach dem Krieg erholte sich der Betrieb nur langsam und litt trotz Modernisierung des Hauses 1929 erneut unter dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise und des 2. Weltkriegs. Angesichts des wachsenden Wohlstands und Individualismus seit den 1950er Jahren entsprachen das karge Wohnangebot und der reglementierte Tagesablauf des Gesellenhauses immer weniger den gesellschaftlichen Bedürfnissen, so dass der Verein das Haus schliesslich 1980 verkaufte. Bis 1994 scheiterten alle Bemühungen um eine neue Zweckbestimmung und Sanierung des Gebäudes, dessen Inneres 1984 noch vor einer Unterschutzstellung gezielt zerstört wurde. So wurde 1994/94 innerhalb der alten, sorgfältig restaurierten Fassaden ein vollständig neues Büro- und Wohnhaus errichtet. O.C.

Villa „Tanneck“, Rämistrasse 68

Submitted by ottavio.clavuot on Mon, 12/13/2021 - 13:58

Ursprünglich 1842-43 als Villa „Sonneck“ für August Adolf Ludwig Follen erbaut, war das Haus wie bereits Follens erstes Domizil, das „(Untere) Sonnenbühl“ an Stelle der heutigen Aula Rämibühl bis 1847 Treffpunkt einheimischer und aus Deutschland zugewanderter Literaten, Künstler, Gelehrter und Politiker. Damit trug Follen zur Entwicklung Hottingens zu einem Zürcher Zentrum des internationalen kulturellen und politischen Austauschs bei. Im Geist der Spätromantik hatte Follen das „Sonneck“ in der Form eines spätmittellaterlichen Landsitzes als zweistöckigen Kubus mit gotisierenden Treppengiebeln und einem Turm mit Belvedere entwerfen lassen.

Sonneck, Unteres Sonnenbühl
Über der Kurve der Rämistrasse das Schlösschen "Sonneck", oberhalb des Wolfbachs Follens erste Villa "Unteres Sonnenbühl". Ausschnitt aus dem „Malerischen Plan der Stadt Zürich und ihrer Umgebungen“, Zeichnung von Franz Schmid, Aquatintablatt, verlegt bei Hans Felix Leuthold, 1846/47.

Nach mehreren Handänderungen gelangte das Haus 1897 an Nanny (Anna) Bruppacher (1849-1933). Nun als „Tanneck“ wurde die Villa 1897/98 vom Semper-Schüler und Meister des Zürcher Historismus, dem Direktor von Gewerbemuseum und Kunstgewerbeschule Albert Müller (1846-1912) im Auftrag der neuen Eigentümerin umgebaut. Anstelle von Turm und Treppengiebeln versah er das Haus mit mittelalterlich wirkenden Erkern, neuromanischen Fenstergruppen, Fachwerkelementen, gusseisernem Verandavorbau und hohem, mit Helmstangen besetztem mächtigem Walmdach.

Rämistrasse 68
Fassade gegen die Rämistrasse und Eingangsseite mit Windfang und grossen Treppenhausfenstern.

Aus dem symmetrischen Schlösschen wurde so ein im Innern reich mit Parkettböden, Vertäfelungen, Stuckdecken ausgestattetes, komfortables Wohnhaus über unregelmässigem Grundriss mit räumlich und formal abwechslungsreich gestalteten Fassaden. O.C.  

Rämistrasse 68
Gartenfassaden mit mehrgeschossigem Erker und grosszügigen Veranden.