Literatur, Dichtung

Eugen Gomringer (geb. 1925), Textkünstler

Submitted by raphael.kost on Mon, 04/25/2022 - 04:20

Eugen Gomringer, oft als Vater der konkreten Poesie bezeichnet, wird am 20. Januar 1925 in Bolivien geboren, seine Mutter ist bolivianische Halbindianerin, sein Vater ein Schweizer Kautschuk-Kaufmann. Er wächst mit Spanisch als Muttersprache auf, wird aber der besseren Bildungschancen wegen als Zweijähriger in die Schweiz geschickt.

Seine Kindheitsjahre beschreibt Gomringer folgendermassen:

Nachdem ich 1927 den Umzug von Bolivien mit meinem Vater nach Herrliberg am Zürichsee gut verkraftet und im Jahr 1929 dank der Pflege und Liebe meiner Grosseltern auch den Umzug von Herrliberg nach Zürich an die Baurstrasse aufmerksam mitgemacht hatte, wurde ich 1930 ein Bub, dessen Spielplatz sich begrenzen lässt vom Tiefenbrunnen bis zum Zürichhorn und bis zum Stadttheater. So nahmen mich die Strassen und Wege entlang dem Seeufer am meisten in Anspruch. Dazu kam die Spielwiese an der Baurstrasse, just neben dem Haus, wo wir zur Miete wohnten. Ich hatte die Wiese im Ausmass eines Fussballplatzes meist zu meiner fast alleinigen Verfügung. Handballspiele fanden nur an Sonntagen statt. (...)

Mehr oder weniger süss verlief auch die ganze Schulzeit, zuerst im Seefeldschulhaus an der Seefeldstrasse mit wunderbaren Lehrern, dann für zwei Jahre Sekundarschule im Schulhaus Münchhalden. Nach acht Jahren bestand ich die Aufnahmeprüfung an die Oberrealschule an der Rämistrasse in Zürich, womit ein neues und ganz anders geartetes Kapitel in meinem Lebenslauf einsetzte.

(Gomringer 2014, 121ff.)

Eugen Gomringer am Poesiefestival Berlin (2018)
Eugen Gomringer am Poesiefestival Berlin (2018)
schweigen

Gomringers Zeit an der Zürcher Oberrealschule (heute MNG Rämibühl) in den 1940er Jahren ist stark geprägt durch den Aktivdienst in der Armee:

Die beste amtliche Auskunft über meinen Lebensabschnitt bis 1950 ist im Dienstbüchlein enthalten. Es ist wohl für manchen Schweizer zum verlässlichen Nachschlagewerk  geworden. Das Erstaunlichste mag an der Auflistung der Dienstleistungen sein, dass ich vor Beginn der Rekrutenschule am 7. Februar 1944 schon 118 Aktiv-Diensttage eingetragen bekommen hatte. Es waren die Tage und Wochen im Fliegerbeobachtungs und -meldedienst, abgekürzt FLBMD. Dieser Dienst begann mit einem Einführungskurs am 31. März 1941. Da war ich gerade sechzehn Jahre jung. Der Meldedienst bestand aus einer Gruppe von zehn Schülern des Gymnasiums und der Oberrealschule. Der Gruppenführer war einer der ihren. Arbeitsort war ein Aussichtsturm oder sonst ein geeigneter Aussichtsposten im Gelände gegenüber den badischen oder schwäbischen Ortschaften entlang des Rheins. (…) Wir Schüler waren Selbstversorger und mussten jeden Tag beim Nachbarn, einem Bauern, Milch holen. Oft wurden wir dort von der Familie eingeladen und wenn es am Abend war, sahen wir den Sternenhimmel auf dem Rückweg durch Wald und Flur durch einen Schnaps etwas vergrössert.

Ein Dienstabschnitt dauerte jeweils zwischen zehn und vierzig Tagen, je nachdem, wie wir und neben der Schulzeit und anderen Diensten freistellen konnten. Die Schüler der fast schon kriegstauglichen Jahrgänge wurden mehrfach beansprucht und manche Unterrichtsstunde fiel zusätzlich aus, weil Rektor und Lehrer wichtige Artillerieoffiziere waren. Neben dem FLBMD gab es auch noch den freiwilligen militärischen Vorunterricht, der so streng ausgeführt wurde, dass es mir einmal beinahe zur Flucht in die deutsche Wehrmacht gereicht hat.

(Gomringer 2014, 123f.)

In seinem berühmten Gedicht "schwiizer" (1973) charakterisiert Gomringer die Eidgenossen auf pointierte Art und Weise:

Audio file

Mit 19 Jahren ist Gomringer Leutnant und will Instruktionsoffizier werden. In Bern und Rom studiert er Volkwirtschaftslehre, Kunst- und Literaturgeschichte. Er lernt die lokalen Kulturszenen in Bern und Zürich kennen und wird später beauftragt, kurze Texte und Essays für Künstlerbücher und Ausstellungsrezensionen zu schreiben.

ping pong

Zu Beginn der 50er Jahre beschliessen Gomringer und seine Freunde Marcel Wyss und Dieter Roth, die neue Zeitschrift Spirale herauszugeben, worin bildende Kunst, Grafik, Architektur und Poesie präsentiert und diskutiert werden soll. Als 1953 die erste Ausgabe erscheint, würdigt Gomringer diesen Anlass mit dem Gedicht «Ciudad» (öfter «Avenidas» genannt). Dieses Gedicht wird oft als Gomringers erste veröffentlichte Konstellation bezeichnet, die auf die Verwendung von Verben und eine klassische syntaktische Struktur verzichtet.

1954 bewirbt sich Gomringer erfolgreich um die Stelle des Sekretärs von Max Bill an der Hochschule für Gestaltung in Ulm und veröffentlicht in der NZZ eine erste Fassung seines Manifests «Vom Vers zur Konstellation», worin er die zentralen Ideen einer neuen, nichtlinearen Poesie beschreibt:

an der stelle des verses tritt die konstellation: die gruppe aus worten. an stelle der syntax genügt es, zwei, drei oder mehrere worte wirken zu lassen, die äusserlich vielleicht unverbunden und mit leichter, zufälliger hand hingespielt erscheinen, bei näherer betrachtung (falls die anspringende wirkung eines wortes an und für sich nicht genügen sollte) aber zu zentren eines kräftefeldes, zu markierungen eines spielraumes werden.

(Eugen Gomringer: vom vers zur konstellation, in: NZZ, Sonntagsausgabe Nr. 1879, 36.)

Max Bill, Architekt, Designer und Autor, der als einer der einflussreichsten Figuren der Schweizer Grafikdesignerszene galt, prägte Gomringers Werk und Leben massgeblich. Vor allem Max Bills Überlegungen zur konkreten Kunst beeinflussten Gomringers Vorstellungen von einer neuen Form der Poesie deutlich.

kein fehler im system

In den 1960er Jahren arbeitet Gomringer als Werbefachmann in der Industrie. 1962 wird er Geschäftsführer des Schweizerischen Werkbundes. Rund 30 Jahre lang textet Gomringer, inspiriert von konkreter Poesie, die Werbung der Warenhauskette ABM (Au Bon Marché). Von 1977-90 ist er Professor für Theorie der Ästhetik an der Kunstakademie Düsseldorf.

Seit 1967 wohnt er im bayrischen Rehau, wo er 2000 das Institut für Konstruktive Kunst und Konkrete Poesie (IKKP) gründet. R.K.

Max Frisch (1911-1991), Schriftsteller und Architekt

Submitted by christian.villiger on Sat, 04/16/2022 - 05:57

Der Schriftsteller und Architekt Max Frisch (1911-1991) besuchte von 1924 bis 1930 das Realgymnasium der Kantonsschule Zürich.

Max Frisch als Student 1934
Max Frisch als Student 1934.

Obwohl Frisch auch mehrere Jahre im Ausland gelebt hat (Rom, New York, Berlin), ist sein ganzes Leben eng mit seiner Geburtsstadt Zürich und insbesondere mit der Gegend um das Rämibühl-Areal verbunden. Aufgewachsen ist er an der Heliosstrasse 31 beim Hegibachplatz. Sein Vater Franz Bruno Frisch war ein zunächst erfolgreicher Architekt, der während der Wirtschaftsflaute im Ersten Weltkrieg allerdings arbeitslos wurde und sich nach dem Krieg mehr schlecht als recht als Immobilienmakler durchschlug.

Vom Frühjahr 1924 bis zum Herbst 1930 besuchte Frisch die Kantonsschule, Abteilung Realgymnasium – dieselbe Schule, die Elias Canetti von 1917 bis 1921 besucht hatte. Zum Teil hatte Frisch die gleichen Lehrer wie Canetti. Anders als bei letzterem war die Schulzeit für Frisch jedoch kein einschneidendes Ereignis in seinem Leben. Die wenigen Aussagen Frischs zu diesem Lebensabschnitt hat Julian Schütt in seiner massgeblichen Frisch-Biographie gesammelt und kundig ausgewertet.

„Ich habe keine intensive Erinnerung an diese Mittelschulzeit, also auch nicht die, dass es ein Schrecken war.“

(Heinz Ludwig Arnold: Gespräche mit Schriftstellern, München 1975, S. 10)

Anders als Canetti war Frisch kein herausragender Schüler, aber doch ein recht guter (er schloss die Matura mit einer 5 in den meisten Fächern ab). Besonders gern mochte er die Fächer Deutsch und Zeichnen, worin sich bereits seine spätere (doppelte) Berufswahl andeutet. Mühe hatte er mit Physik und Geographie.

Die eigentliche intellektuelle Inspirationsquelle jener Jahre war jedoch nicht die Schule, sondern das nahegelegene Schauspielhaus. Als Frisch fünfzehn war und die 3. Klasse des Gymnasiums besuchte, faszinierte ihn eine Aufführung von Schillers Die Räuber derart, dass er selbst Stücke zu schreiben begann. In kurzer Zeit entstanden bis zu einem halben Dutzend Theaterstücke, die Frisch zum Teil selbst in der Schule zur Aufführung brachte. Sie sind heute alle verschollen. Sein erstes Stück schickte er mit beneidenswertem Selbstbewusstsein gleich an den berühmtesten Theaterregisseur seiner Zeit, Max Reinhardt in Berlin. Er erhielt eine höfliche Absage.

Interessant ist, dass die Frage der Identität und des „Bildnisses“ – die beiden späteren Lebensthemen Frischs – sich bereits in der Schulzeit ein erstes Mal ankündigen. Gemäss seinem Biographen Julian Schütt empfand Frisch seine Schuljahre als „Jahre der Festlegungen, vorerst weniger der mentalen als der körperlichen Fixierungen, der schmerzhaft äusserlichen Bilder“. Eine Augenkrankheit im Kinderalter hatte bei Frisch zu einer Lähmung der Lider geführt, was ihm ein spöttisches, misstrauisches, arrogantes Aussehen verlieh. Auch litt Frisch an seiner in seinen Augen zu kleinen Nase und darunter, überhaupt auf ein bestimmtes Äusseres festgelegt zu sein.

Man kann das als typische Pubertätssorgen abtun, aber vielleicht besteht die Faszination von Frischs Werk gerade darin, dass es aufzeigt, wie uns diese vermeintlich bewältigten Jugendsorgen auch im Erwachsenenalter wieder einholen. Der fünfzigjährige Walter Faber, die Hauptfigur in Frischs Roman Homo faber, erinnert sich, als er sich in eine zwanzigjährige Frau verliebt, wieder an die jugendlichen Sorgen um sein Aussehen. Dabei war er von den genau gleichen Zweifeln betroffen, die auch den Mittelschüler Frisch beschäftigten (ausser dass Fabers Nase zu lang und nicht zu klein ist).

Ich war der einzige Gast, weil noch früh am Abend, und was mich irritierte, war lediglich der Spiegel, Spiegel im Goldrahmen. Ich sah mich, sooft ich aufblickte, sozusagen als Ahnenbild: Walter Faber, wie er Salat isst, im Goldrahmen. [...] ich sah ausgezeichnet aus. Ich bin nun einmal (das wusste ich auch ohne Spiegel) ein Mann in den besten Jahren, grau, aber sportlich. Ich halte nichts von schönen Männern. Dass meine Nase etwas lang ist, hat mich in der Pubertät beschäftigt, seither nicht mehr; [...] was mich irritierte, war einzig und allein dieses Lokal: wo man hinblickte, gab es Spiegel, ekelhaft [...].

"You are looking like -" Nur wegen dieser blöden Bemerkung von Williams (dabei mag er mich, das weiss ich!) blickte ich immer wieder, statt meinen Fisch zu essen, in diese lächerlichen Spiegel [...].

Max Frisch: Homo faber (1957), S. 98.

„Ich habe als Schüler erfahren, wie [meine Physiognomie] den einen oder anderen Lehrer verdrossen hat: ein mässiger Schüler und eine solche Arroganz.“

(Max Frisch: Montauk)

 

„Schreck: So und so sehe ich aus – Schreck, ein Gesicht zu haben: bestimmt, begrenzt, geprägt sein, gefangen sein, geboren sein.“

(Notizheft H.117, aufbewahrt im Max-Frisch-Archiv Zürich, zitiert nach: Schütt, Max Frisch, S. 65)

Max Frisch Arroganz?

Frisch geht in dieselbe Klasse wie Werner Coninx, der Sohn des Gründers der Tages-Anzeiger AG. Mit diesem wird er sich erst nach seiner Schulzeit richtig befreunden. Der reiche Coninx finanziert Frisch dann dessen Architekturstudium. Die schwierige, ambivalente Freundschaft mit Coninx hat Frisch in seiner autobiographischen Erzählung Montauk beschrieben.

Nach der Matura studierte Frisch zunächst Germanistik an der Uni Zürich, musste sein Studium aus finanziellen Gründen jedoch abbrechen. Er arbeitete einige Jahre als Journalist und veröffentlichte erste Romane. Von 1936 bis 1940 studierte er Architektur an der ETH Zürich bei Otto Salvisberg und William Dunkel. Frisch arbeitete nur wenige Jahre als Architekt. Sein berühmtestes Bauwerk ist das Freibad Letzigraben, das von 1947 bis 1949 erstellt und 2006/07 saniert wurde. Frisch beschreibt die Bauarbeiten in seinem Tagebuch 1946-49.

Max Frisch im Freibad Letzigraben um 1948
Max Frisch im Freibad Letzigraben um 1948.
Freibad Letzigraben Pavillon 1947
Freibad Letzigraben, Pavillon, 1947.

Später hat sich Frisch vor allem theoretisch über Architektur geäussert. In den frühen 1950er-Jahren beteiligte er sich an der Seite von Armin Meili an der städteplanerischen Debatte um Wohnhochhäuser. Er schrieb dafür das Hörspiel Der Laie und die Architektur (1954). Ab 1964 sass Frisch in der Jury, die über einen Neubau des Schauspielhauses am Heimplatz befand. Aus dem Wettbewerb ging das Projekt des dänischen Architekten Jørn Utzon, der bereits das Sydney Opera House entworfen hatte, als Sieger hervor. Es sah einen Neubau am Standort des heutigen Kunsthaus-Erweiterungsbaus und einen verkehrsfreien Heimplatz vor. Das Projekt wurde 1970 beerdigt.

"ich schwitze; sogar Zürich bedrängt mich, Stadtrat Widmer war hier, ich habe als Preisrichter anzutreten im Wettbewerb für das neue Schauspielhaus, und anderes mehr, ich brauche nur nachzugeben, um meine Zeit als Maestro zu verbringen statt zu arbeiten - Noch arbeite ich..."

Max Frisch an Ingeborg Bachmann, Rom, 6. August 1962

Als Schriftsteller erlangte Frisch mit seinen Dramen, Romanen und den „Tagebüchern“ Weltruhm; mehrfach wurde er für den Nobelpreis nominiert. Als sich politisch dezidiert links verortender Intellektueller prägte er die Schweizer (und bundesrepublikanische) Politik und Gesellschaft über Jahrzehnte mit, wobei er sich in der bürgerlich dominierten Schweiz auch viele Feinde machte. Noch die aus seinem Nachlass edierten Werke erregen regelmässig die öffentliche Debatte (so sein 2015 erschienener Kommentar zur Fichen-Affäre: Ignoranz als Staatsschutz?)

Es ist auf eine Art folgerichtig, dass Frischs Leben, das so eng mit der Gegend um den Rämihügel verbunden war, auch dort endete. Seinen letzten öffentlichen Auftritt hatte Frisch auf der Bühne des Schauspielhauses, anlässlich der Premiere seines Stücks Jonas und sein Veteran – einer Auseinandersetzung mit der Initiative zur Abschaffung der Schweizer Armee. Gestorben ist Frisch in seiner Wohnung beim Bahnhof Stadelhofen (Stadelhoferstrasse 28), wo heute eine Gedenktafel an ihn erinnert. C.V.

Max Frisch in seiner Wohnung an der Stadelhoferstrasse
Max Frisch in seiner Wohnung an der Stadelhoferstrassse.

Ricarda Huch (1864-1947), Historikerin und Schriftstellerin

Submitted by ottavio.clavuot on Fri, 01/28/2022 - 05:15

In Braunschweig als Kaufmannstochter geboren, kam Ricarda Huch 1887 wie andere junge Frauen nach Zürich, um hier ein ihnen in der Heimat verwehrtes Studium aufzunehmen.

Ricarda Huch
Ricarda Huch. Foto um 1914.

Mit zwei ihrer Schicksalsgenossinnen verband sie eine lebenslange Freundschaft: Marie Baum (1874-1964) aus Danzig, die am Polytechnikum (heute ETH) Chemie studierte und die Deutsche Demokratische Partei 1919 in der Nationalversammlung in Weimar, danach im Reichstag vertreten sollte, sowie Marianne Plehn (1863-1946) aus Lubochin bei Schwetz (heute Swiecie) an der Weichsel, die in Zoologie abschloss und 1914 die erste deutsche Professorin in Bayern werden sollte. 1895-96 wohnten die drei als Untermieterinnen im „Schanzenberg“

Maria Baum
Marie Baum.
Marianne Plehn
Marianne Plehn. Foto 1914.

Nachdem Ricarda Huch 1891 an der Universität in Geschichte und Germanistik mit dem Doktorat abgeschlossen hatte, unterrichtete sie 1893-96 an der Zürcher Töchterschule. Daneben begann sie eine intensive schriftstellerische Tätigkeit als Autorin historischer Darstellungen und Romane zu entfalten und wirkte im Lesezirkel Hottingen mit, bei dem sie auch in späteren Jahren wiederholt Gast war. 1896-1912 durchlebte sie eine bewegte Zeit: zwei Ehen, Familiengründung, längere Aufenthalte in Wien, Triest, München und Braunschweig. Nach der Scheidung von ihrem zweiten Mann lebte sie 1912-27 weitgehend in München. Hier entstanden viele ihrer wichtigen Bücher, so z.B. eine Biografie Michail Bakunins. 1927 übersiedelte sie nach Berlin. Seit 1926 Mitglied der Preussischen Akademie der Künste, verweigerte sie im Frühling 1933 die geforderte Loyalitätserklärung gegenüber der nationalsozialistischen Regierung und trat aus Protest gegen den Ausschluss Alfred Döblins aus der Akademie aus. Obwohl sie dem Nationalsozialismus kritisch gegenüberstand und in Jena, wo sie seit 1935 bis zu ihrem Tod lebte, zahlreiche Kontakte zu Kritikern des Regimes unterhielt, genoss sie die Protektion führender Nationalsozialisten. Ihr letztes Projekt, die Erinnerung an den Widerstand gegen Hitler in Biografien wachzuhalten, konnte sie nur noch für die Weisse Rose und die Geschwister Scholl verwirklichen. O.C.

Johanna Spyri (1827-1901), Kinderbuchautorin

Submitted by ottavio.clavuot on Fri, 01/28/2022 - 05:13

In Hirzel als Tochter des Landarztes Johann Jakob Heusser geboren, wurde Johanna Heusser als Vierzehnjährige nach Zürich geschickt, um Klavierspielen und Französisch zu lernen. Nach einem einjährigen Aufenthalt in Yverdon kehrte sie 1845 zunächst nach Hirzel zurück, bevor sie 1852 den Anwalt und Redakteur der „Eidgenössischen Zeitung“ Bernhard Spyri (1821-84) heiratete. Während sich ihr Mann vor allem dem Beruf widmete und 1868 zum Zürcher Stadtschreiber aufstieg, war sie mit ihrem Leben als Ehefrau und Mutter des einzigen 1855 geborenen Sohns nicht glücklich. Halt fand sie in der Freundschaft mit Betsy, der Schwester Conrad Ferdinand Meyers (1825-98), mit dem sie ebenfalls freundschaftlich verkehrte. Auf Anregung des mit der Familie befreundeten Bremer Pastors Cornelius Rudolph Vietor (1814-97) wandte sie sich dem Schreiben zu und verfasste einige erbauliche Erzählungen, deren erste 1871 erschien.

Johanna Spyri
Johanna Spyri. Foto 1870-er Jahre.

So entstanden in ihrer fruchtbarsten Schaffensphase 1879-84 zwanzig Erzählungen für Kinder und Erwachsene, darunter auch die beiden „Heidi“-Bücher (1879/81), die sofort zum grossen Erfolg wurden.

Heidi
Erstausgabe von Heidis Lehr- und Wanderjahren. 1880.

1875 wurde sie in die Aufsichtskommission der Höheren Töchterschule gewählt, wo sie bis 1892 tätig war. 1884 starben Sohn und Ehemann. Zwei Jahre später bezog sie eine Wohnung in den vornehmen „Escherhäusern“ am Zeltweg 9, wo sie bis zu ihrem Tod zurückgezogen lebte und an ihren Büchern arbeitete. O.C.

Filmplakat zu Heidi
DVD-Cover mit Film-Still des Heidi-Films von 1952 mit Heinrich Gretler in der Rolle des Alpöhi.
Ober- und Ordnungsbegriffe

Villa „Tanneck“, Rämistrasse 68

Submitted by ottavio.clavuot on Mon, 12/13/2021 - 13:58

Ursprünglich 1842-43 als Villa „Sonneck“ für August Adolf Ludwig Follen erbaut, war das Haus wie bereits Follens erstes Domizil, das „(Untere) Sonnenbühl“ an Stelle der heutigen Aula Rämibühl bis 1847 Treffpunkt einheimischer und aus Deutschland zugewanderter Literaten, Künstler, Gelehrter und Politiker. Damit trug Follen zur Entwicklung Hottingens zu einem Zürcher Zentrum des internationalen kulturellen und politischen Austauschs bei. Im Geist der Spätromantik hatte Follen das „Sonneck“ in der Form eines spätmittellaterlichen Landsitzes als zweistöckigen Kubus mit gotisierenden Treppengiebeln und einem Turm mit Belvedere entwerfen lassen.

Sonneck, Unteres Sonnenbühl
Über der Kurve der Rämistrasse das Schlösschen "Sonneck", oberhalb des Wolfbachs Follens erste Villa "Unteres Sonnenbühl". Ausschnitt aus dem „Malerischen Plan der Stadt Zürich und ihrer Umgebungen“, Zeichnung von Franz Schmid, Aquatintablatt, verlegt bei Hans Felix Leuthold, 1846/47.

Nach mehreren Handänderungen gelangte das Haus 1897 an Nanny (Anna) Bruppacher (1849-1933). Nun als „Tanneck“ wurde die Villa 1897/98 vom Semper-Schüler und Meister des Zürcher Historismus, dem Direktor von Gewerbemuseum und Kunstgewerbeschule Albert Müller (1846-1912) im Auftrag der neuen Eigentümerin umgebaut. Anstelle von Turm und Treppengiebeln versah er das Haus mit mittelalterlich wirkenden Erkern, neuromanischen Fenstergruppen, Fachwerkelementen, gusseisernem Verandavorbau und hohem, mit Helmstangen besetztem mächtigem Walmdach.

Rämistrasse 68
Fassade gegen die Rämistrasse und Eingangsseite mit Windfang und grossen Treppenhausfenstern.

Aus dem symmetrischen Schlösschen wurde so ein im Innern reich mit Parkettböden, Vertäfelungen, Stuckdecken ausgestattetes, komfortables Wohnhaus über unregelmässigem Grundriss mit räumlich und formal abwechslungsreich gestalteten Fassaden. O.C.  

Rämistrasse 68
Gartenfassaden mit mehrgeschossigem Erker und grosszügigen Veranden.

Elias Canetti (1905-1994), Schriftsteller

Submitted by christian.villiger on Thu, 10/14/2021 - 10:25

Der Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger Elias Canetti (1905–1994) besuchte von 1917 bis 1921 das Realgymnasium der Kantonsschule Zürich.

Es gibt in der Geschichte der Rämibühl-Gymnasien wohl niemanden, der die Schule lieber besucht und später mit grösserer Dankbarkeit an seine Schulzeit zurückgedacht hat, als Elias Canetti.

Elias Canetti während seiner Zürcher Schulzeit

 Elias Canetti während seiner Zürcher Schulzeit

Elias Canetti wurde 1905 in Rustschuk in Bulgarien in eine jüdische Familie hineingeboren. Die erste Sprache, die er lernte, war das Spanisch der sephardischen Juden, auch Spaniolisch oder Ladino genannt. Die Eltern sprachen gut Deutsch, verwendeten diese Sprache aber nur, wenn sie von den Kindern nicht verstanden werden wollten und brachten sie ihnen daher auch nicht bei. 1911 entschlossen sie sich dazu, nach Manchester umzuziehen, weil es ihnen in der Kleinstadt Rustschuk zu eng wurde. Nach dem plötzlichen Tod des Vaters mit nur 31 Jahren zog die Mutter 1913 mit den Kindern weiter nach Wien und schliesslich 1916 nach Zürich. Canetti lernte innert kürzester Zeit Englisch, Deutsch und – Schweizerdeutsch.

Nach einem Jahr Primarschule besuchte Canetti ab dem Schuljahr 1917/18 das Gymnasium der Kantonsschule Zürich an der Rämistrasse (zuerst im Gebäude der Alten Kantonsschule, dann auf dem Schanzenberg). Nach der zweijährigen Unterstufe musste er sich zwischen dem altsprachlichen Profil mit Griechisch (dem „Literar-Gymnasium“) und dem „Real-Gymnasium“ mit Latein und modernen Fremdsprachen entscheiden. Er wählte letzteres. Über seine Schulzeit, seine Lehrer und Mitschüler schreibt Canetti ausführlich im ersten Band seiner dreiteiligen Autobiographie, der 1977 unter dem Titel Die gerettete Zunge erschienen ist.

Canetti Cover Gerettete Zunge

Über den Schüler Canetti schreibt sein Biograph Sven Hanuschek:

Elias Canetti muss ein ungewöhnlicher Schüler gewesen sein. In den 13 Jahren seiner Schulzeit ist er auf fünf Schulen in vier verschiedenen Ländern gegangen. Trotz der Wechsel hatte er überall herausragende Ergebnisse […]. Vielleicht war die grenzenlose Neugier, die vom Erwachsenen überliefert ist, auch schon beim Kind vorhanden. Seine Erinnerungen an die Schulzeit sind fast durchweg positiv, für die Zürcher Jahre sogar begeistert […]. Angesichts der Schulgeschichten anderer Autoren der frühen Moderne ist Canettis Bild seiner Schulzeit durchaus ungewöhnlich.

In Zürich wohnten die Canettis zunächst an der Scheuchzerstrasse 68 im Kreis 6. Als die Mutter nach dem Ende des Ersten Weltkriegs wieder nach Wien umziehen wollte, weigerte sich der 14-jährige Canetti, weil ihm die Schule und ihre Lehrer so gut gefielen. Er durfte bleiben und wurde darauf während zwei Jahren als einziger Knabe im Mädchenpensionat Villa Yalta beim Bahnhof Tiefenbrunnen (Seefeldstrasse 287) einquartiert. Canetti ging in dieser Zeit ganz auf in geistigen Beschäftigungen, im Lernen, Lesen und Schreiben; er sprach später von der einzig wahrhaft glücklichen Zeit seines Lebens. Die Mutter wünschte sich für ihren Sohn aber eine härtere Lebensschule als das friedliche, harmonische Zürich und so musste Canetti noch vor der Matur nach Frankfurt am Main übersiedeln.

Villa Yalta Zürich-Tiefenbrunnen

Die einzig vollkommen glücklichen Jahre, das Paradies in Zürich, waren zu Ende. Vielleicht wäre ich glücklich geblieben, hätte sie mich nicht fortgerissen. Es ist aber wahr, dass ich andere Dinge erfuhr als die, die ich im Paradies kannte. Es ist wahr, dass ich, wie der früheste Mensch, durch die Vertreibung aus dem Paradies erst entstand.

Elias Canetti, Die gerettete Zunge

Canettis Abgangszeugnis 1921:

Fleiss: sehr gut

Fortschritt: sehr gut

Betragen: gut

Bemerkungen: Muss nach Deutschland.

(Matrikeleintrag im Schülerverzeichnis des Realgymnasiums Rämibühl)

Die Schuljahre in Zürich waren nicht ganz ungetrübt: Während einigen Monaten im Winter 1919/20 mussten Canetti und seine jüdischen Mitschüler antisemitische Sticheleien und Gehässigkeiten von Schulkameraden erdulden. Canetti verfasste eine Petition an den Rektor, die jedoch äusserlich ohne Wirkung blieb. Dennoch hörten die Sticheleien von einem Tag auf den andern plötzlich auf und schlugen gar in Herzlichkeit um. „Die Angriffe waren übrigens, wie ich später erfuhr, auf eine kluge Weise von oben abgestellt worden, ohne Lärm und Aufhebens.“

In Canettis Schulzeit am Realgymnasium fiel 1919 auch die Feier zum hundertsten Geburtstag von Gottfried Keller. Canettis Klasse musste sich eine Lobrede auf Keller in der Predigerkirche anhören. Canetti und einer seiner Mitschüler spotteten über Keller, den sie für eine Lokalberühmtheit hielten, ohne je etwas von ihm gelesen zu haben. Später wurde Canetti zum begeisterten Keller-Leser.

Hätte ich das Glück, im Jahr 2019 am Leben zu sein, und die Ehre, zu seiner Zweihundert-Jahr-Feier in der Predigerkirche zu stehen und ihn mit einer Rede zu feiern, ich fände ganz andere Elogen für ihn, die selbst den unwissenden Hochmut eines Vierzehnjährigen bezwingen würden.

Gerne hätte man diese Rede – vielleicht in der Aula Rämibühl – gehört im Jahr 2019.

Seine letzte öffentliche Lesung hielt Canetti 1983 an einer Feier zum 150. Jubiläum der Kantonsschule Zürich. Zwei Jahre zuvor war ihm der Nobelpreis für Literatur verliehen worden. Eigentlich wollte er damals schon gar keine Lesungen mehr geben, aber er fühlte sich der Schule, „die mich geprägt hat wie keine andere“, verpflichtet: „Ich wäre mir sonst als ein Monstrum der Undankbarkeit vorgekommen.“ C.V.

Elias Canetti in späteren Jahren

Adolf Muschg (geb. 1934), Schriftsteller

Submitted by christian.villiger on Sun, 09/05/2021 - 09:36

Der bekannte Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg (geb. 1934 in Zollikon) legte 1953 seine Matura am Literargymnasium ab (damals noch nicht auf dem Rämibühl-Areal). Nach einem Studium der Germanistik, Anglistik und Psychologie an den Universitäten Zürich und Cambridge arbeitete er von 1959 bis 1962 als Hauptlehrer für Deutsch an der Oberrealschule (der Vorgängerschule des MNG). Die Erfahrungen dieser Zeit gingen ein in den krimiartigen Roman Mitgespielt (1969), der von einem Deutschlehrer handelt, der in Verdacht gerät, einen seiner Schüler ermordet zu haben. Die damaligen Räumlichkeiten der Oberrealschule sind wiedererkennbar. Muschg arbeitete später als Dozent an verschiedenen Universitäten und von 1970 bis 1999 als Professor für deutsche Sprache und Literatur an der ETH Zürich.

Adolf Muschg 1975

Vor Kurzem blickte Muschg auf seine Zeit am LG zurück. Auf die Bemerkung eines Journalisten, sein neuer Roman setze die Kenntnis des ganzen europäischen Bildungskanons voraus, meinte Muschg:

 

«Die Vorlagen, die Sie nennen, sind nicht mehr Teile unseres kulturellen Alphabets. Ich habe es noch gelernt, nicht nur zu meinem Vergnügen. Aber was ich im Literargymnasium habe aufpacken müssen und damals als Last empfunden habe, entpuppt sich immer mehr als der wahre Schatz meines Alters.»

 

(NZZ am Sonntag, 1. August 2021, S. 43.) C.V.

Peter Szondi (1929-1971), Literaturwissenschaftler

Submitted by christian.villiger on Sun, 09/05/2021 - 09:25

Peter Szondi (1929-1971) war einer der einflussreichsten Literaturwissenschaftler des 20. Jahrhunderts. Szondi studierte in Zürich Germanistik bei Emil Staiger und wurde später Professor in Berlin. Nach dem Abschluss seiner Doktorarbeit (der rasch berühmt werdenden Theorie des modernen Dramas) arbeitete Szondi von 1955 bis 1959 als Lehrer unter anderem am Literargymnasium. Er wohnte zu dieser Zeit in unmittelbarer Nähe zur Schule an der Florhofgasse 3.

Szondi in einem Brief an seinen guten Freund Ivan Nagel über seine Tätigkeit als Lehrer (13. September 1957):

 

«Ich habe jetzt im Herbstquartal […] an der Neuen Schule 17, am Literargymnasium 4 Wochenstunden. Letztere bereiten mir immer mehr Freude, die Buben sind gescheit, fleissig und bereit, die Mischung aus Unterricht und Cabaret, die ich ihnen serviere, anzunehmen.»

Das LG war damals eine reine Knabenschule.

Peter Szondi 1962

Im selben Brief beschreibt er auch seine kleine Wohnung an der Florhofgasse:

 

«Ich wohne seit dem 1. September in einem Einzimmerappartement – wie das Zeug in Zürich heisst – also ein Zimmer mit separatem Badezimmer und Kochnische, die allerdings auch einen Eisschrank einschliesst. Also alles, was ich brauche, um völlig unabhängig zu sein, dazu sehr hübsch und auch sehr gut gelegen: an der Florhofgasse, […] unterhalb der Kantonsschule, beim Konservatorium. Das Fenster schaut auf zwei hübsche Barockhäuser, wenn ich morgens aufsteh, scheint mir, ich sei in einem Salzburger Hotelzimmer.»

Szondi wurde in Budapest als Sohn des berühmten Psychoanalytikers Leopold Szondi geboren. Unter der deutschen Besatzung Ungarns geriet die assimilierte jüdische Familie Szondi zunehmend in Gefahr, in ein Konzentrationslager deportiert zu werden. Sie wurde jedoch ausgewählt, im sogenannten Kasztner-Zug mitzufahren und so in Sicherheit gebracht zu werden. Rudolf Kasztner, ein jüdischer Anwalt, hatte mit den Nazis (genauer: mit dem Sonderkommando Eichmann) in geheimen Verhandlungen ausgehandelt, dass 1685 Juden aus Ungarn ins sichere Ausland auswandern dürfen. Im Gegenzug erhielten die Nazis Geld und Schmuck. Der von der SS beaufsichtigte Zug verliess Budapest Ende Juni 1944, gelangte aber zunächst nur bis zum Konzentrationslager Bergen-Belsen, wo die Szondis fünf Monate bleiben mussten. Trotz der gegenüber anderen Lagerinsassen privilegierten Situation als „Austauschjuden“ war es eine zutiefst demütigende und traumatisierende Erfahrung. Im Dezember 1944 gelangten die sogenannten „Kasztner-Juden“ schliesslich doch noch in die Schweiz. Die Schuldgefühle gegenüber den vielen, die den Holocaust nicht überlebt haben, werden Szondi sein ganzes Leben beschäftigen. Sie dürften wesentlich mitverantwortlich gewesen sein für seinen Suizid im Alter von 42 Jahren.

Peter Szondi ist auf dem Friedhof Fluntern in Zürich begraben. Eine unweit davon gelegene Wegverbindung heisst seit 2005 zur Erinnerung an ihn und seinen Vater «Szondiweg». An der Krähbühlstrasse 30 steht noch immer das von seinem Vater gegründete «Szondi-Institut» für Tiefenpsychologie und Schicksalsanalyse. C.V.

Wohnhaus „Zum Thaleck“, Zeltweg 27

Submitted by ottavio.clavuot on Mon, 08/16/2021 - 07:57

Der spätklassizistische, urbane Eckbau an der Einmündung der Gemeindestrasse in den Zeltweg ist 1867 im Zuge der Stadterweiterung des mittleren 19. Jahrhunderts entstanden. Die Wirtschaft „Thaleck“ im Erdgeschoss war Treffpunkt der Sozialdemokraten.

Wohnhaus "Zum Thaleck"
Wohnhaus "Zum Thaleck" mit dem gleichnamigen Restaurant um 1910.

Hier diskutierten sowohl Vertreter der einheimischen Sozialisten, wie Karl Bürkli (1823-1901) und Hermann Greulich (1842-1925, seit 1867 in Zürich), als auch wegen Bismarcks Sozialistengesetzen 1878-90 im Exil lebende deutsche Sozialdemokraten, wie August Bebel und Eduard Bernstein (1850-1932), ausserdem der 1880-82 in Zürich weilende Österreicher Karl Kautsky (1854-1938). In Hottingen erschien seit 1879 – ab 1882 an der Kasinostrasse 3 – auch „Der Sozialdemokrat“, das Parteiblatt der deutschen Sozialdemokratie. In der Wohnung im 1. Obergeschoss verbrachte der Dichter Gottfried Keller, kein Freund der Sozialisten, 1882-90 seine letzten Lebensjahre. Seit 1924 war hier die Leihbibliothek des „Lesezirkels Hottingen“ untergebracht bis zu dessen Auflösung 1941. Gegründet 1882, um breiteren Kreisen Neuerscheinungen der Literatur, Kunst und Wissenschaft zugänglich zu machen, bot der Lesezirkel Lesemappen mit Illustrierten und literarischen Zeitschriften an und betrieb eine Leihbibliothek.

Gemeindestrasse 4 Lesezirkel-Haus
Lesemappenverteiler vor dem, dem "Thaleck" benachbarten Haus Gemeindestrasse 4, in dem bis 1924 die Bibliothek des Lesezirkels untergebracht war. Foto 1907. 

1887/88 veranstaltete er den ersten Vortragszyklus und seit 1896 Abende für Literatur und Kunst, an denen prominente Autoren, wie z.B. Thomas Mann, Heinrich Mann, Hugo von Hofmannsthal oder Rainer Maria Rilke lasen, aber auch musikalische Stücke zur Aufführung gelangten, wie etwa 1924 „L‘ histoire du soldat“ von Charles Ferdinand Ramuz und Igor Strawinsky. Gesellschaftliche Ereignisse waren die pompösen Kostümfeste des Lesezirkels in der Tonhalle, im Grand Hotel Dolder und im Baur au Lac. O.C.

Lesezirkel Hottingen Besucher
Zusammenstellung von Einträgen ins Gästebuch des Lesezirkels.

Gottfried Keller (1819-1890), Schriftsteller

Submitted by christian.villiger on Sat, 07/24/2021 - 05:32

Gottfried Keller (1819–1890) ist einer der bekanntesten deutschsprachigen Schriftsteller und der berühmteste ehemalige MNG-Schüler.

Salomon Hegi Porträt Gottfried Keller 1841

Genaugenommen besuchte Gottfried Keller von 1833 bis 1834 die gerade neu gegründete «Industrieschule», die 1928 zur «Oberrealschule» und 1974 zum «MNG Rämibühl» wurde. Das Schulhaus befand sich zu Kellers Zeit noch nicht auf dem Rämibühl-Areal, sondern beim Grossmünster. Heute steht dort das Theologische Seminar der Uni Zürich.

Keller wurde nach nur etwas mehr als einem Jahr von der Schule gewiesen, weil er sich an einer Randale gegen einen unbeliebten Lehrer beteiligt hatte. Die Schüler (damals nur Knaben) hatten sich zum Haus des Lehrers begeben, um unrechtmässig eingezogene Mathehefte zurückzuverlangen. Dabei kam es zu einer Schlägerei mit den Söhnen des Lehrers, das Haus wurde mit Steinen und Holzstücken beworfen, Scheiben wurden eingeschlagen. Keller wurde – zu Unrecht – als Anstifter angesehen und als Einziger hart bestraft. Man geht heute davon aus, dass der Schulverweis mit dem Scheidungsprozess von Kellers Mutter zusammenhängt. Die hohen Herren der Stadt wollten an ihr ein Exempel statuieren.

Für den 14-jährigen Keller bedeutete der Schulverweis, dass er aus der bürgerlichen Welt ausgeschlossen war. Seine Mutter konnte sich keine Privatschule leisten. Er versuchte sich zunächst als Kunstmaler, hatte jedoch wenig Erfolg, lebte jahrelang in ärmlichen Verhältnissen und litt zeitweise gar Hunger.

Gottfried Keller in seinem autobiographischen Roman Der grüne Heinrich (2. Fassung, 1. Band, 16. Kapitel):

«Ich wurde entlassen und ging etwas bewegt, doch gemächlich nach Hause; das Ganze schien mir nicht sehr würdig zu verlaufen. Zwar fühlte ich eine tiefe Reue, aber nur gegen den mißhandelten Lehrer. Zu Hause erzählte ich der Mutter den ganzen Vorgang, worauf sie mir eben eine Strafrede halten wollte, als ein Amtsdiener hereintrat mit einem großen Briefe. Dieser enthielt die Nachricht, daß ich von Stund an und für immer von dem Besuche der Schule ausgeschlossen sei. Das Gefühl des Unwillens und erlittener Ungerechtigkeit, welches sich sogleich in mir äußerte, war so überzeugend, daß meine Mutter nicht länger bei meiner Schuld verweilte, sondern sich ihren eigenen bekümmerten Gefühlen überließ, da der große und allmächtige Staat einer hilflosen Witwe das einzige Kind vor die Türe gestellt hatte mit den Worten Es ist nicht zu brauchen!»

Im selben Roman heisst es zusammenfassend:

«Ein Kind von der allgemeinen Erziehung ausschließen heißt nichts anderes, als seine innere Entwicklung, sein geistiges Leben köpfen.»

Auch das Rämibühl-Areal selbst war für Gottfried Keller wichtig. Hier stand seit 1843 die «Villa Sonneck» des hessischen Emigranten August Adolf Ludwig Follen, der Kellers schriftstellerische Laufbahn entscheidend förderte. Zugespitzt könnte man sagen: Ohne Follen und den Rämihügel wäre aus Keller vielleicht nie ein Schriftsteller geworden.

Die «Villa Sonneck» an der Rämistrasse 64 (heute: 68) wurde 1897 im Heimatstil stark umgebaut und in «Villa Tanneck» umbenannt. Diese steht heute noch, in ihr ist gegenwärtig das Klassisch-philologische Seminar der Uni Zürich untergebracht.

Rämibühl um 1850 Villa Sonneck Oberes Sonnenbühl

Ganz rechts die Villa Sonneck (mit Turm), das zweite Gebäude von rechts ist das «Obere Sonnenbühl». Im Vordergrund die Rämistrasse.

Als der 23-jährige Keller Ende 1842 erfolg- und völlig mittellos aus München nach Zürich zurückgekehrt war, wollte er zunächst immer noch Maler werden. Die Lektüre der politischen Vormärz-Lyrik eines Anastasius Grün und Georg Herwegh ergriff ihn jedoch nach eigener Aussage «wie ein Trompetenstoß» und inspirierte ihn zu eigenen Gedichten. Diese zeigte er zunächst Julius Froebel, einem seiner früheren Lehrer an der Industrieschule, der ihn dann mit Follen bekannt machte. Mit Unterstützung der beiden konnte Keller erste Gedichte in Zeitschriften und 1846 seinen ersten Gedichtband veröffentlichen. In den 1840er-Jahren hielten sich viele vor Repression und Zensur geflüchtete liberale Schriftsteller und Gelehrte in Zürich auf. Keller hatte Zugang zu dieser Emigrantenszene, unter anderem dank Follen.

Keller in einer „biographischen Skizze“ vom 22. März 1847:

«Als ich einen ziemlichen Pack Reimereien beieinander hatte, überschickte ich sie Professor Follen und bat ihn mit angstvoller Erwartung um Entscheidung über Sein oder Nichtsein dieser Versuche […], denn er ist zu seiner grossen Unbequemlichkeit das Orakel der poetischen Anfänger in der Schweiz geworden»

Ein zwischen Juli und August 1843 geführtes Tagebuch gibt Auskunft über diese für Keller schwierige Zeit, in der er nach der ihm zukommenden Aufgabe in der bürgerlichen Gesellschaft suchte und sehr unsicher über seine schriftstellerische Begabung war.

10. August

Gedichte ins Reine geschrieben, weidlich geraucht und grosse Unruhe und Unbehaglichkeit empfunden.

Die Sache ergreift mich mit allen Fibern. Ob sich wohl meine äusserlichen und ökonomischen Hundstage in innerliche, geistige Gewittertage verwandeln?

 

11. August

Nichts getan.

Ein deutscher Vormärz-Emigrant war auch Georg Büchner, der während seines Zürcher Exils 1836/37 in unmittelbarer Nachbarschaft zu Keller in der Altstadt gewohnt hatte. Keller wohnte damals im „Haus zur Sichel“ am Rindermarkt 9. Gekannt haben sich die beiden wohl nicht. Die Werke Büchners hat Keller erst um 1880 gelesen; er reagierte darauf jedoch mit Ablehnung.

Fast alle wichtigen Schauplätze von Gottfried Kellers Leben und Wirken befinden sich in Schrittdistanz zum Rämibühl-Areal: zum Beispiel das Geburtshaus («Haus zum goldenen Winkel», Neumarkt 27), das Haus seiner Kindheit («Haus zur Sichel», Rindermarkt 9), das Wohnhaus des Staatschreibers (Kirchgasse 33), das Keller von 1861-75 bewohnte, und das Haus «Zum Thaleck» (Zeltweg 27), in dem er von 1882 bis zu seinem Tod lebte.

Auf der Webseite https://www.gottfriedkellerzuerich.ch/ kann man einen virtuellen Rundgang durch Kellers Zürich machen und sich über die diese und weitere Häuser und Orte kundig informieren. Abbildungen von Kellers Häusern finden sich auf der Seite der Gottfried Keller-Gesellschaft Zürich: https://gottfriedkeller-gesellschaft.ch/gottfried-keller/zuercher-wohnorte/

Die Kantonsschule Hottingen an der Minervastrasse 14 hiess früher Gottfried-Keller-Schule. Der Name wurde wohl gewählt, weil Keller im Verlauf seines Lebens gleich drei Wohnungen in unmittelbarer Nähe bewohnt hatte (Minervastr. 10, Gemeindestr. 27 [damals: Gemeindegasse 25] und im «Haus zum Thaleck», Zeltweg 27). Die Kanti Hottingen war jedoch nie Teil der Industrieschule, die Keller besucht hat, sie ist vielmehr aus der Handelsschule der früheren Höheren Töchterschule (heute: Kantonsschule Hohe Promenade) hervorgegangen. C.V.

Porträt Gottfried Keller Blanca Illi 2019

Gottfried-Keller-Porträt von der K+S-Schülerin Blanca Illi (2019).