Sozialismus

Karl Bürkli (1823-1901), Sozialist

Submitted by ottavio.clavuot on Fri, 01/28/2022 - 05:11

Geboren als Sohn eines Zürcher Seidenfabrikanten und Obersten, absolvierte Karl Bürkli nach dem Abbruch der Untergymnasiums 1839-42 eine Gerberlehre. Auf der Walz kam er 1845-47 in Paris mit den frühsozialistischen Theorien Charles Fouriers, Claude Henri de Saint-Simons, Pierre Joseph Proudhons und Robert Owens in Kontakt. Vor allem Fouriers Vision einer anarchischen, nicht auf der Familie aufbauenden Gesellschaft aus Grosskommunen (Phalanstères) auf der Grundlage landwirtschaftlich-gewerblicher Produktion, beeindruckten ihn.

Phalanstère
Charles François Daubigny (1817-78). Idealzeichnung eines Phalanstère nach der Theorie von Charles Fourier. Auftrag der Ecole sociétaire, lithografiert in der Druckerei Prodhomme und herausgegeben von H. Fugère, Paris. 1847.

Zurück in Zürich engagierte er sich zusammen mit Johann Jakob Treichler (1822-1906) im und ausserhalb des Grossrats (heute Kantonsrat) für die direkte Demokratie, die Verbesserung des Schulwesens, die Einführung von Progressiv- und Erbschaftssteuern sowie die Gründung einer Kantonalbank. 1851 trat er dem „Grütliverein“ bei und gründete mit Treichler und weiteren Genossen den ersten Konsumverein der Schweiz, den „Konsumverein Zürich“. 1853 bestanden bereits fünf Konsumläden, die auch das Rückgrat einer Art sozialistischer Parteiorganisation bildeten. Genossenschafter waren meist Arbeiter der Zürcher Industriebetriebe. Der Versuch, mit einer Schar Gleichgesinnter in Texas eine Phalanstère zu gründen, scheiterte 1855/56 an innerem Streit und an äusseren Widerständen.

Bürkli Kantonalbank
Titelblatt von Karl Bürklis Schrift „Eine Kantonalbank, aber keine Herren-, sondern eine Volksbank“ von 1866.

Nach seiner Rückkehr nach Zürich 1858 widmete sich der ewige Junggeselle wieder in Rede und Schrift dem Kampf für die friedliche Überwindung des Kapitalismus. Bürklis Gastwirtschaft an der Metzgergasse wurde 1861-87 zu einem Begegnungsort Oppositioneller und Bürkli selbst zu einem führenden Kopf der demokratischen Bewegung. 1866 trat er der Ersten Internationale bei und war 1867-76 Gründer und Präsident ihrer Zürcher Sektion. Als Mitglied der 35er-Kommission des Verfassungsrats trug er 1868/69 wesentlich dazu bei, dass verschiedene seiner Forderungen in der neuen Kantonsverfassung verwirklicht wurden. Seit 1869 immer wieder Kantonsrat schloss er sich der im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts entstehenden sozialdemokratischen Arbeiterbewegung an. Neben alten Forderungen vertrat er nun etwa auch die Einführung des Proporzwahlrechts. O.C.

Karl Bürkli
Karl Bürkli. Foto wohl um 1895.

August Bebel (1840-1913), Sozialistenführer und Unternehmer

Submitted by ottavio.clavuot on Fri, 01/28/2022 - 05:06

In Deutz bei Köln in ärmlichen Verhältnissen geboren und früh Vollwaise, erlernte August Bebel 1854-57 in Wetzlar das Drechslerhandwerk. Zu Beginn der Walz trat er 1858 dem „Katholischen Gesellenverein“ bei. 1860 liess er sich in Leipzig nieder, wo er sich im 1861 gegründeten „Gewerblichen Bildungsverein“ und in der liberal-demokratischen Arbeiterbewegung engagierte.

Gesellenbüchlein August Bebels
August Bebels Wanderbüchlein des „Katholischen Gesellenvereins“.

Die Begegnung mit Wilhelm Liebknecht (1826-1900), der in London von Karl Marx und Friedrich Engels beeindruck worden war, brachte 1865 Bebels Hinwendung zum politischen Sozialismus. Zusammen mit Liebknecht gründete er 1869 die Sozialdemokratische Arbeiterpartei, die sich 1875 mit dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAP, seit 1890 SPD) vereinigte. Als Redner, Autor und Mitglied des Deutschen Reichstags entwickelte sich Bebel während der Geltung des Bismarckschen Sozialistengesetzes 1878-90 zum Führer der deutschen Sozialdemokratie – eine Stellung, die 1892 durch seine Wahl zu einem der beiden Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands Anerkennung finden sollte.

Väter der Arbeiterbewegung
Gründer und Kämpfer der sozialdemokratischen Partei: Im Zentrum Karl Marx, oben August Bebel und Wilhelm Liebknecht, unten Carl Wilhelm Tölcke und Ferdinand Lasalle. 

Während des Verbots der ausserparlamentarischen politischen Arbeit nutzten die deutsche Sozialdemokratie und ihre Exponenten Zürich als rückwärtigen Stützpunkt. Bebel und Liebknecht schlugen vor, das Parteiblatt im Verlag des Schweizerischen Arbeiterbundes der „Schweizerischen Vereinsbuchdruckerei & Volksbuchhandlung“ herauszugeben. So erschien „Der Sozialdemokrat“ unter der Redaktion Eduard Bernsteins (1850-1932) seit 1879 in Hottingen – 1882-88 an der Kasinostrasse 3. Hier wurde auch Bebels in Deutschland verbotenes Buch „Die Frau und der Sozialismus“ 1879 gedruckt.

August Bebel
Schweizer Illustrierte mit Porträt August Bebels anlässlich seines Todes.

Nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes hielt sich Bebel immer wieder in Zürich auf, wohin seine Tochter Frieda 1891 geheiratet hatte. Der seit 1864 auch als Unternehmer erfolgreiche Bebel liess 1897 als Zürcher Absteige die „Villa Julie“ (Seestrasse 176) in Küsnacht bauen. Ab 1912 war er häufiger Gast bei seiner verwitweten Tochter und seinem Enkel im „Schanzenberg“ an der Rämistrasse. Nach seinem Tod während eines Kuraufenthalts der drei in Passugg am 13. August 1913, nahm vier Tage später der bis dahin grösste Trauerzug in Zürich beim „Schanzenberg“, wo sich etwa 15‘000 Menschen versammelten hatten, seinen Anfang. Nach einem Zwischenhalt beim Volkshaus, wo gegen 50‘000 Personen am aufgebahrten Bebel vorbei defilierten, wurde der Sarg in feierlichem Umzug zum Friedhof Sihlfeld gebracht. O.C.

Ehem. Brauerei und Wohnhaus „Schanzenberg“, Schönberggasse 1-7

Submitted by ottavio.clavuot on Wed, 11/10/2021 - 06:16

1842 erwarb der aus dem württembergischen Flunau bei Tettnang stammende, in Wangen, Ulm und Ravensburg zu Vermögen gekommene Bierbrauer und Immobilienhändler Joseph Anton Kern (1793-1862) das ehemalige Schanzengelände oberhalb des Rämibollwerks, um eine Bierbrauerei einzurichten. Die nach 1798 eingeführte Wirtschaftsfreiheit und das 1840 beschlossene kantonale Biergesetz bildeten wichtige Voraussetzungen für die Gründung von Brauereien und den Aufschwung der Bierproduktion im Kanton Zürich. In Kerns Auftrag errichtete Wilhelm Waser (1811-66) bis 1844 das Brauereigebäude auf einem künstlich aufgeschütteten Plateau, das die ausgedehnten Keller aufnahm. Zwischen zwei dreigeschossigen Eckbauten – der östliche als Wohnhaus, der westliche als Ökonomiegebäude mit Stallungen und Malzmühle konzipiert – war die eigentliche Brauerei mit Malzdarre, Sudhaus und Kühlschiff im zweistöckigen Mittelteil untergebracht. In den folgenden Jahren entstanden die Fabrikantenvilla mit Garten und Ökonomiegebäude (1844/45, 1956 abgebrochen) sowie ein weiteres Nebengebäude (1851), die spätere Villa „Belmont“.

Panorama Schönberggasse
Rechts der Rämistrasse erhebt sich der "Schanzenberg" hinter der Fabrikantenvilla, links das "Obere Sonnenbühl". Ausschnitt aus dem Panorama der Stadt Zürich, von der Schönberggasse aufgenommen von David Alois Schmid, um 1844.

Als Kern die Brauerei 1852 aufgab, nahm er Wohnung im „Schanzenberg“ und verkaufte die Villa und die Ökonomiegebäude an den „Spinnerkönig“ Heinrich Kunz (1793-1859) aus Oberuster, den damals grössten Schweizer Textilunternehmer, der beabsichtigte, seinen Geschäftssitz nach Zürich zu verlegen. 1862, kurz vor seinem Tod, veräusserte Kern den „Schanzenberg“ an den Seidenhändler Karl Johann Burkhard (1816-83) aus Oberrieden und dessen Schwager, den württembergischen Leinen- und Baumwollhändler Georg Rall-Hummel (1800-72). Die neuen Besitzer erweiterten das Haus um zwei Geschosse: Die beiden fünfstöckigen, nur durch zwei umlaufende Gurten und einen Balkon gegliederten Eckrisalite mit flachem Walmdach und der viergeschossige, analog gestaltete Mittelteil verliehen dem hoch über Florhof und Alter Kantonsschule thronenden Bau einen festungsartigen Charakter. Eine umfassende Modernisierung erfuhr das Haus nach einem erneuten Besitzerwechsel 1896, als die Wohnungen auf der Südseite grosszügige Balkone erhielten.

"Schanzenberg"
Der mächtige Block des "Schanzenbergs" erhebt sich über der Alten Kantonsschule mit Turnhalle und dem Schulhaus Wolfbach.

1862-66 wohnte der literarisch-politische Bohémien Georg Herwegh, der sich 1839 aus Württemberg in die Schweiz abgesetzt hatte, mit seiner Familie in einer der Wohnungen des „Schanzenbergs“. Später lebten hier auch deutsche Studentinnen als Untermieterinnen, die nach Zürich gekommen waren, weil ihnen in der Heimat das Studium verwehrt war, so z.B. Ricarda Huch 1895-96, die sich als Historikerin und Schriftstellerin einen Namen machen sollte, oder Marie Baum (1874-1964), die 1899 in Chemie promovierte, sich nach ihrer Rückkehr nach Deutschland sozialpolitisch engagierte und 1919 als Vertreterin der DDP in die Weimarer Nationalversammlung gewählt wurde. Frieda Bebel (1869-1948), das einzige Kind des deutschen Sozialistenführers August Bebel, kam 1889 nach Zürich, um die Maturitätsprüfung abzulegen. Sie heiratete hier 1891 und zog nach dem Tod ihres Mannes 1912 zusammen mit ihrem Sohn in den „Schanzenberg“. Ihr inzwischen verwitweter Vater weilte oft bei Tochter und Enkel. Als er während eines Kuraufenthalts in Passugg am 13. August 1913 starb, nahm vier Tage später der grösste Trauerzug, den Zürich bisher gesehen hatte, beim „Schanzenberg“ seinen Anfang.

Trauerzug August Bebel
Der Trauerzug für August Bebel vor der Villa "Belmont" am 17. August 1913.

Im gleichen Jahr erwarb der Kanton den „Schanzenberg“, der seit 1918 schrittweise zum Schulhaus umfunktioniert wurde, um Klassen der trotz der 1909 eröffneten Neuen Kantonsschule aus allen Nähten platzenden Kantonsschule aufzunehmen. Zu einer dieser Klassen gehörte 1920 Elias Canetti, der spätere Nobelpreisträger für Literatur. Mit der Eröffnung der Kantonsschule Rämibühl 1970 konnte die Kantonale Mittelschule für Erwachsene in den „Schanzenberg“ einziehen. Ihr folgte 2000-12 die Pädagogische Hochschule, danach die Universität. O.C.

Wohnhaus „Zum Thaleck“, Zeltweg 27

Submitted by ottavio.clavuot on Mon, 08/16/2021 - 07:57

Der spätklassizistische, urbane Eckbau an der Einmündung der Gemeindestrasse in den Zeltweg ist 1867 im Zuge der Stadterweiterung des mittleren 19. Jahrhunderts entstanden. Die Wirtschaft „Thaleck“ im Erdgeschoss war Treffpunkt der Sozialdemokraten.

Wohnhaus "Zum Thaleck"
Wohnhaus "Zum Thaleck" mit dem gleichnamigen Restaurant um 1910.

Hier diskutierten sowohl Vertreter der einheimischen Sozialisten, wie Karl Bürkli (1823-1901) und Hermann Greulich (1842-1925, seit 1867 in Zürich), als auch wegen Bismarcks Sozialistengesetzen 1878-90 im Exil lebende deutsche Sozialdemokraten, wie August Bebel und Eduard Bernstein (1850-1932), ausserdem der 1880-82 in Zürich weilende Österreicher Karl Kautsky (1854-1938). In Hottingen erschien seit 1879 – ab 1882 an der Kasinostrasse 3 – auch „Der Sozialdemokrat“, das Parteiblatt der deutschen Sozialdemokratie. In der Wohnung im 1. Obergeschoss verbrachte der Dichter Gottfried Keller, kein Freund der Sozialisten, 1882-90 seine letzten Lebensjahre. Seit 1924 war hier die Leihbibliothek des „Lesezirkels Hottingen“ untergebracht bis zu dessen Auflösung 1941. Gegründet 1882, um breiteren Kreisen Neuerscheinungen der Literatur, Kunst und Wissenschaft zugänglich zu machen, bot der Lesezirkel Lesemappen mit Illustrierten und literarischen Zeitschriften an und betrieb eine Leihbibliothek.

Gemeindestrasse 4 Lesezirkel-Haus
Lesemappenverteiler vor dem, dem "Thaleck" benachbarten Haus Gemeindestrasse 4, in dem bis 1924 die Bibliothek des Lesezirkels untergebracht war. Foto 1907. 

1887/88 veranstaltete er den ersten Vortragszyklus und seit 1896 Abende für Literatur und Kunst, an denen prominente Autoren, wie z.B. Thomas Mann, Heinrich Mann, Hugo von Hofmannsthal oder Rainer Maria Rilke lasen, aber auch musikalische Stücke zur Aufführung gelangten, wie etwa 1924 „L‘ histoire du soldat“ von Charles Ferdinand Ramuz und Igor Strawinsky. Gesellschaftliche Ereignisse waren die pompösen Kostümfeste des Lesezirkels in der Tonhalle, im Grand Hotel Dolder und im Baur au Lac. O.C.

Lesezirkel Hottingen Besucher
Zusammenstellung von Einträgen ins Gästebuch des Lesezirkels.

Georg Herwegh (1817-75), Dichter, Revolutionär und Sozialist

Submitted by admin on Sun, 06/06/2021 - 20:04

In Stuttgart als Sohn eines Gastwirts geboren, studierte Georg Herwegh Rechtswissenschaften und Theologie in Tübingen, wo er sich auch in der radikal-liberalen Burschenschaftsbewegung engagierte. Seit 1836 als freier Schriftsteller tätig, entzog er sich 1839 der Zwangsrekrutierung zur württembergischen Armee durch Flucht nach Zürich, wo er im Kreis deutscher Emigranten um August Follen gut aufgenommen wurde. Hier erschienen auch die zwei Bände der „Gedichte eines Lebendigen“ (1841/43), die ihn über Nacht berühmt machten. In diesen Jahren schrieb er für Julius Froebels Wochenzeitung „Schweizer Republikaner“ sowie für die von Karl Marx herausgegebene „Rheinische Zeitung“. Auf Reisen lernte er Heinrich Heine, Ludwig Feuerbach und Michail Bakunin kennen. Nach der Heirat mit Emma Siegmund (1817-1904), der Tochter eines Berliner Bankiers, übersiedelte das Paar 1843 nach Paris.

Georg Herwegh

Georg Herwegh 1843 in Zürich, Ölgemälde von Conrad Hitz.

1848 beteiligten sich die beiden am liberal-republikanischen Aufstand im Grossherzogtum Baden. Nach dessen Scheitern flohen sie über die Schweiz zurück nach Paris. Vier Jahre später liessen sie sich wieder in Zürich nieder. Trotz zunehmend prekärer Finanzlage pflegten die Herweghs einen grossbürgerlichen Lebensstil und empfingen in ihrer Wohnung, 1862-66 im „Schanzenberg“, neben Vertretern der deutschen und italienischen Emigration, wie z.B. Richard Wagner, Gottfried Semper und Franz Liszt, Francesco de Sanctis (1817-83) und Felice Orsini (1819-58), auch Gottfried Keller. Nach der Begegnung mit Ferdinand Lassalle 1861, während dessen Besuch in Zürich, wandte sich Herwegh dessen genossenschaftlichem Sozialismus zu. 1863 wurde er zum Schweizer Bevollmächtigen des von Lasalle mitgegründeten „Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins“, dessen sofort verbotenes „Bundeslied“ er als Hymne auf das revolutionäre Proletariat verfasste.

Audio file
Bundeslied des "Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins"

1866 kehrte er nach Deutschland zurück, wurde noch im gleichen Jahr Ehrenkorrespondent der Ersten Internationale und schloss sich 1869 der von August Bebel und Wilhelm Liebknecht gegründeten marxistisch-revolutionären Sozialdemokratischen Arbeiterpartei an, für deren Blatt Der Volksstaat er fortan schrieb. 1875 starb er bei Baden-Baden und wurde auf eigenen Wunsch in republikanischer Erde in Liestal bestattet. O.C.