Industrialisierung

Heinrich Kunz (1793-1859), Industriepionier

Submitted by ottavio.clavuot on Fri, 01/28/2022 - 05:22

In Oetwil am See als Sohn des vermögenden, politisch aktiven Baumwollverlegers und Landwirts Hans Heinrich Kunz (1766-1825) geboren, besuchte Heinrich Kunz 1806-09 die neu eröffnete, bald renommierte Privatschule von Caspar Fierz (1777-1814) in Männedorf. Danach schickte ihn der Vater zur kaufmännischen Ausbildung in die 1806 von Johann Jakob Ziegler (1770-) und dem Isliker Unternehmer Bernhard Greuter (1745-1822) als Spinnerei, Weberei, Färberei und Druckerei gegründete Baumwollfabrik Ziegler-Greuter & Cie.nach Gebweiler im Elsass. Während der rund zwei Jahre dort lernte er die modernsten Techniken der Bauwollverarbeitung und die Herausforderungen eines Grossbetriebs kennen, knüpfte wertvolle Kontakte und gewann die Unterstützung der beiden Fabrikherren bei der Beschaffung handbetriebener Spinnmaschinen. 1811 investierte Hans Heinrich Kunz unter Anleitung seines Sohnes einen beträchtlichen Teil seines Vermögens in die Einrichtung einer mechanischen Spinnerei mit 700 Spindeln im Dachgeschoss des Wohnhauses in der Gusch in Oetwil am See.

Gusch Oetwil am See
Das 1811 von Hans Heinrich Kunz vom Mousselinefabrikanten Hans Heinrich Weber erworbene repräsentative Wohnhaus in der Gusch, in dem Vater und Sohn Kunz die erste Spinnerei einrichteten. 

Der Erfolg des Unternehmens liess Vater und Sohn nach Standorten für eine wasserbetriebene Spinnerei Ausschau halten. Nach zwei erfolglosen Versuchen glückte 1817 die Einrichtung einer Fabrik mit 1560 Spindeln am Aabach in Oberuster, die Heinrich Kunz nach dem Tod des Vaters übernahm. Bereits 1825 konnte er die erste eigene Spinnerei in Niederuster eröffnen, wo er auch die 1831 erstmals importierten Halfselfactors während zwei Jahrzehnten nachbaute. In den folgenden Jahren investierte Kunz seine Betriebsgewinne in die Gründung weiterer Spinnereien in Windisch (1829), Linthal (1839), Rorbas (1840), Kemptthal (1841), Adliswil (1842) und Unter-Aathal (1851). Zu Beginn der 1850er Jahre war er mit 132'000 Spindeln und über 2000 Arbeitern der mit Abstand grösste Spinnereibesitzer in der Schweiz.

Spinnerei Kunz Niederuster
Im Vordergrund das von Heinrich Kunz 1825 errichtete Spinnereigebäude in Niederuster. Foto um 1900.

Er verdankte diesen Erfolg nicht zuletzt der Spezialisierung der Fabriken auf wenige Garnnummern und der hohen Qualität seiner feinen Garne. Das Unternehmen leitete er von Oberuster aus mit Hilfe einiger Vertrauter, darunter seine Schwester Susanna Zollinger-Kunz (1790-1849), die 1829-1841 die Verantwortung für die Spinnerei in Windisch trug. Zur Erschliessung neuer Absatzmöglichkeiten und zum Verfolgen der technischen Entwicklung war Kunz im In- und Ausland unterwegs, so etwa in England, wo er 1851 die Weltausstellung in London besuchte, in Frankreich, Deutschland und Österreich. Ausschlaggebend für die Standortwahl der Fabriken waren erschliessbare Wasserläufe und käufliche Wasserrechte, um die es nicht zuletzt wegen der Missachtung der Nutzungsbeschränkungen durch Kunz zu ständigen Rechtsstreitigkeiten kam. Die Fabrikationsgebäude liess er alle nach dem gleichen Grundmuster errichten: längsrechteckige, meist fünfgeschossige, quer zum Wasserlauf gestellte, schlichte Zweckbauten mit grossen Fenstern, flachem Sattel- oder Walmdach und markantem Quergiebel. Wo Arbeitskräfte vor Ort fehlten, wurden zudem Kosthäuser für Zuzüger gebaut, so etwa in Niederuster (1827) und Windisch (1837).

Längsschnitt Spinnerei Oberuster
Längsschnitt durch die Spinnerei in Oberuster. Kraftübertragung und Produktion erfolgten in den durchgehenden Fabriksälen entlang der Gebäudeachse. Planaufnahme 1984.

Während der persönlich unzugängliche, verhältnismässig bescheiden lebende Kunz die Wohltat von Arbeit und Brot für die wachsende Bevölkerung betonte, prangerten die Kritiker den Spinnerkönigals hartherzigen Schinder an. Tatsächlich entsprachen die Verhältnisse in Kunz’ Spinnereien den damals weit verbreiteten harten Bedingungen: lange Arbeitszeiten, tiefe Löhne, Kinderarbeit trotz kantonalem Verbot, körperliche Züchtigung, Bussgeld, fehlende Kranken- und Unfallversicherung.

Audio file
Auszug aus einem Brief von Kunz an Pfarrer Jakob Amsler in Windisch vom 28. Dezember 1844.

Politisch und sozial engagierte sich Kunz zurückhaltend und vor allem dann, wenn es seinen Interessen entsprach, so war er 1835-47 Mitglied der Zürcher Handelskammer, setzte sich öffentlich für den Strassenbau ein oder unterstützte verschiedene Gemeinden in Notsituationen. Gleichzeitig reduzierte er durch Steuerabsprachen seine Leistungspflicht. Die Unternehmensgewinne investierte er im Laufe der Zeit immer mehr in fremde Spinnereibetriebe, Staatspapiere und in den Eisenbahnbau, so dass sein Vermögen schliesslich zu drei Vierteln aus Finanzwerten bestand.1856 verlegte Kunz den Firmensitz von Oberuster nach Zürich, wohl in den zu diesem Zweck erworbenen Schanzenberg an der Rämistrasse. Als der stets unverheiratet gebliebene, kinderlose Kunz 1859 starb wurde sein auf 17 Millionen Franken geschätztes Vermögen unter seine Geschwister und deren Nachkommen aufgeteilt, nachdem diese unter erheblichem öffentlichem Druck 750‘000 Franken für gemeinnützige Zwecke gespendet hatten. O.C.

Heinrich Kunz
Heinrich Kunz um 1830. Druck nach 1859.

Eidgenössische Technische Hochschule (ETH), Rämistrasse 101

Submitted by ottavio.clavuot on Sun, 01/02/2022 - 07:40

Im Bestreben, das für eine erfolgreiche Industrialisierung der Schweiz erforderliche technische Personal und Wissen unabhängig vom Ausland auszubilden und zu entwickeln, beschlossen die eidgenössischen Räte 1854 die Gründung des Eidgenössischen Polytechnikums (seit 1905 ETH) in Zürich nach dem Vorbild der Pariser Ecole Polytechnique (1794/1804). Da nach der Niederschlagung der Revolution von 1848 zahlreiche namhafte Gelehrte und Wissenschaftler Deutschland verlassen mussten und bereit waren, in der liberalen Schweiz am Aufbau der neuen Hochschule mitzuwirken, gewann diese rasch einen guten Ruf und war ihrer Aufgabe, eine konkurrenzfähige technische Elite auszubilden, gewachsen. So nahm auch Gottfried Semper, der sich als Architekt in Dresden bereits einen Namen gemacht hatte, die ihm angebotene Professur 1854 an. Kurz darauf erhielt er den Auftrag, ein Projekt für das Schulgebäude von Polytechnikum und Universität auf dem ehemaligen Schanzengelände gegenüber dem neuen Kantonsspital auszuarbeiten. 1859-64 wurde der funktional gegliederte, über der Stadt thronende Neurenaissance-Bau mit vorgelagerter Terrasse und selbständigem Chemiegebäude an der Rämistrasse nach Sempers Plänen von Staatsbaumeister Johann Caspar Wolff (1818-91) realisiert.

ETH
Erhöhte Lage und zur Stadt orientierte Hauptfassade manifestieren die Bedeutung der ETH für Zürich und den Bundesstaat. Foto um 1905.

Die Fassaden der geschlossenen, viergeschossigen Vierflügelanlage mit zentralem Hof werden durch Mittelrisalite mit Eingängen und Treppenhäusern sowie Eckrisalite an den Längsseiten gegliedert. Die beiden unteren Geschosse sind durch die Rustikaquaderung zu einem mächtigen Sockel zusammengebunden. Darüber reihen sich die je nach Funktion des Gebäudeteils die unterschiedlich ausgebildeten Fensterachsen der beiden oberen Stockwerke. Im Westtrakt befanden sich die Lehrräume des Polytechnikums und hinter der Repräsentationsfassade des Mittelrisalits gegen die Stadt die Halle des Haupteingangs sowie die Räume der Schulleitung und die Aula.

ETH Semper-Bau
Die plastische Neurenaissance-Blendarchitektur des Mittelrisalits verleiht der Hauptfassade repräsentativen Charakter.

Der nördliche Flügel beherbergte die Zeichen- und Übungsräume – die von Semper entworfene Sgraffito-Dekoration der Fassade nimmt darauf Bezug – , der östliche die Sammlungen und der südliche die Universität. Im Zentrum der Anlage unterteilte eine eingeschossige Halle für die Antikensammlung den Hof und machte damit die humanistische Verwurzelung der technischen Ausbildung deutlich. Die von Semper geplante Ausmalung der repräsentativen Durchgangsräume ist nie ausgeführt worden. Einzig die Wand- und Deckengestaltung der Aula wurde vollständig nach seinen Vorgaben realisiert.

ETH Aula
Entwurf Sempers von 1865 für die Gestaltung der Aula: An der Wand hinter Rednertribüne und korinthischer Kolonnade Triumphbogenmotiv und mythologische Malereien.

Das starke Wachstum der Hochschule, technische Mängel am Bau und der Auszug der Universität in Karl Mosers 1914 eingeweihten Neubau, führten 1915-24 zur umfassenden Erneuerung und Erweiterung der Schulanlage nach Plänen von Gustav Gull: Das Chemiegebäude wurde abgebrochen, der Semper-Bau durch die L-förmige Verlängerung des südlichen und des nördlichen Flügels bis an die Rämistrasse erweitert und der alte Osttrakt durch einen wesentlich breiteren Gebäudeflügel mit diesen um ein Geschoss überragender, Kuppel bekrönter Mittelrotunde ersetzt. In deren über die Fassade vorspringendem Halbrund befindet sich hinter ionischen Kolossalsäulen das Auditorium Maximum, darüber die Bibliothek, darunter die Halle mit dem auf den neu entstandenen Vorhof zwischen Nord- und Südflügel gehenden Haupteingang. Die beiden Gebäudeflügel nehmen in den Risaliten gegen die Rämistrasse die ionischen Kolossalsäulen der Rotunde auf und rahmen mit vorspringenden, die Fassadenflucht der Risalite verlängernden Arkaden den Strassenraum und den Vorhof. Durch die axialsymmetrische, monumental wirkende, barocken Schlossanlagen ähnliche Komposition hat Gull das ETH-Gebäude von der Stadt zur Rämistrasse umorientiert.

ETH Rämistrasse
Die neue Hauptfront der ETH gegen die Rämistrasse. Foto vor 1938.

Anstelle der Antikenhalle setzte Gull eine über die ganze Gebäudehöhe reichende Halle zwischen die neu in die Höfe eingebauten Auditorien. Das komplexe Raumgefüge geschickt gestaffelter und verschränkter Arkaden und Kolonnaden öffnet die grosse Halle zu anderen Räumen, schafft Zonen unterschiedlichen Lichts und nimmt dadurch der Architektur die Schwere.

ETH Halle
Gulls Halle mit den Erschliessungsalerien und-emporen. Foto um 1943.

Unter den dem Semper-Bau angeglichenen Oberflächen aus Kunststein und Neurenaissance-Formen verbarg Gull das moderne Baumaterial, den Eisenbeton, der auch für die ursprünglich betonsichtig geplante Kuppel benützt wurde.

ETH Kuppelkonstruktion
Die sichtbare Betonaussenschale der Betonrippenkuppel mit kassettierten Füllungen wurde auf öffentlichen und politischen Druck mit Ziegeln verkleidet. Foto um 1971.

1964-77 wurde das ETH-Gebäude nach Plänen der Professoren Charles-Edouard Geisendorf (1913-85) und Alfred Roth (1903-98) nochmals erweitert, unter anderem durch die Hörsaaleinbauten in den beiden Innenhöfen und die Grossmensa unter der neuen Polyterrasse. O.C.   

Villa „Belmont“, Rämistrasse 67

Submitted by ottavio.clavuot on Wed, 11/10/2021 - 06:28

Ursprünglich war das heutige Wohnhaus „Belmont“ ein 1851 errichtetes Nebengebäude der von Joseph Anton Kern betriebenen Bierbrauerei im „Schanzenberg“. Nach der Einstellung des Brauereibetriebs 1852 kaufte „Spinnerkönig“ Heinrich Kunz (1793-1859) aus Oberuster, der damals grösste Schweizer Textilunternehmer, 1855 die Fabrikantenvilla und das unterdessen als Wohnhaus genutzte Ökonomiegebäude, um seinen Geschäftssitz hierher zu verlegen. Nach dem Tod des kinderlosen Unternehmers wurde sein auf 17 Millionen Franken geschätztes Vermögen 1859 unter den Erben geteilt: Anna Barbara Gessner-Kunz (1807-um 69), eine Halbschwester des Verstorbenen, erhielt einen Achtel des Erbes, zu dem auch das spätere „Belmont“ gehörte. 1860 liessen die neuen Eigentümer das ehemalige Ökonomiegebäude von Wilhelm Waser (1811-66) in eine spätklassizistische Villa umbauen. Der in München ausgebildete Architekt überbaute den Hof des zweigeschossigen, hufeisenförmigen Remisenbaus mit dem gegen die Rämistrasse vorspringenden, dreigeschossigen, repräsentativ gestalteten Kubus: Von Lisenen gefasste, risalitartig wirkende Fensterachsen flankieren die Mittelpartie der Attika gekrönten Strassenfront mit dem Haupteingang und der palladianischen Pfeilerloggia. Den Altbau stockte Waser um ein Geschoss auf und fasste ihn unter einem Walmdach mit Zinne zusammen.

Villa Belmont
Villa "Belmont". Foto 1946.

Nach dem Tod des Ehepaars Gessner-Kunz verkauften die Erben 1874 das Wohnhaus, das nach einem weiteren Besitzerwechsel 1912 vom Kanton erworben wurde. 1884-86 wohnte der damalige Oberinstruktor der Kavallerie und spätere General Ulrich Wille (1848-1925) als Mieter im „Belmont“. 1913 wurde das seit 1886 von Constantin von Monakow (1853-1930), dem in Russland gebürtigen, seit 1866 in Zürich lebenden, führenden Schweizer Neurologen und Hirnanatomen, aufgebaute Hirnanatomische Institut in der zu diesem Zweck umgebauten Villa untergebracht. Gleichzeitig wurde das „Belmont“ auch von der trotz der 1909 errichteten „Neuen Kantonsschule“ unter Raumnot leidenden Kantonsschule bis zur Eröffnung der Kantonsschule Rämibühl 1970 als Schulhaus genutzt. O.C.

Ehem. Brauerei und Wohnhaus „Schanzenberg“, Schönberggasse 1-7

Submitted by ottavio.clavuot on Wed, 11/10/2021 - 06:16

1842 erwarb der aus dem württembergischen Flunau bei Tettnang stammende, in Wangen, Ulm und Ravensburg zu Vermögen gekommene Bierbrauer und Immobilienhändler Joseph Anton Kern (1793-1862) das ehemalige Schanzengelände oberhalb des Rämibollwerks, um eine Bierbrauerei einzurichten. Die nach 1798 eingeführte Wirtschaftsfreiheit und das 1840 beschlossene kantonale Biergesetz bildeten wichtige Voraussetzungen für die Gründung von Brauereien und den Aufschwung der Bierproduktion im Kanton Zürich. In Kerns Auftrag errichtete Wilhelm Waser (1811-66) bis 1844 das Brauereigebäude auf einem künstlich aufgeschütteten Plateau, das die ausgedehnten Keller aufnahm. Zwischen zwei dreigeschossigen Eckbauten – der östliche als Wohnhaus, der westliche als Ökonomiegebäude mit Stallungen und Malzmühle konzipiert – war die eigentliche Brauerei mit Malzdarre, Sudhaus und Kühlschiff im zweistöckigen Mittelteil untergebracht. In den folgenden Jahren entstanden die Fabrikantenvilla mit Garten und Ökonomiegebäude (1844/45, 1956 abgebrochen) sowie ein weiteres Nebengebäude (1851), die spätere Villa „Belmont“.

Panorama Schönberggasse
Rechts der Rämistrasse erhebt sich der "Schanzenberg" hinter der Fabrikantenvilla, links das "Obere Sonnenbühl". Ausschnitt aus dem Panorama der Stadt Zürich, von der Schönberggasse aufgenommen von David Alois Schmid, um 1844.

Als Kern die Brauerei 1852 aufgab, nahm er Wohnung im „Schanzenberg“ und verkaufte die Villa und die Ökonomiegebäude an den „Spinnerkönig“ Heinrich Kunz (1793-1859) aus Oberuster, den damals grössten Schweizer Textilunternehmer, der beabsichtigte, seinen Geschäftssitz nach Zürich zu verlegen. 1862, kurz vor seinem Tod, veräusserte Kern den „Schanzenberg“ an den Seidenhändler Karl Johann Burkhard (1816-83) aus Oberrieden und dessen Schwager, den württembergischen Leinen- und Baumwollhändler Georg Rall-Hummel (1800-72). Die neuen Besitzer erweiterten das Haus um zwei Geschosse: Die beiden fünfstöckigen, nur durch zwei umlaufende Gurten und einen Balkon gegliederten Eckrisalite mit flachem Walmdach und der viergeschossige, analog gestaltete Mittelteil verliehen dem hoch über Florhof und Alter Kantonsschule thronenden Bau einen festungsartigen Charakter. Eine umfassende Modernisierung erfuhr das Haus nach einem erneuten Besitzerwechsel 1896, als die Wohnungen auf der Südseite grosszügige Balkone erhielten.

"Schanzenberg"
Der mächtige Block des "Schanzenbergs" erhebt sich über der Alten Kantonsschule mit Turnhalle und dem Schulhaus Wolfbach.

1862-66 wohnte der literarisch-politische Bohémien Georg Herwegh, der sich 1839 aus Württemberg in die Schweiz abgesetzt hatte, mit seiner Familie in einer der Wohnungen des „Schanzenbergs“. Später lebten hier auch deutsche Studentinnen als Untermieterinnen, die nach Zürich gekommen waren, weil ihnen in der Heimat das Studium verwehrt war, so z.B. Ricarda Huch 1895-96, die sich als Historikerin und Schriftstellerin einen Namen machen sollte, oder Marie Baum (1874-1964), die 1899 in Chemie promovierte, sich nach ihrer Rückkehr nach Deutschland sozialpolitisch engagierte und 1919 als Vertreterin der DDP in die Weimarer Nationalversammlung gewählt wurde. Frieda Bebel (1869-1948), das einzige Kind des deutschen Sozialistenführers August Bebel, kam 1889 nach Zürich, um die Maturitätsprüfung abzulegen. Sie heiratete hier 1891 und zog nach dem Tod ihres Mannes 1912 zusammen mit ihrem Sohn in den „Schanzenberg“. Ihr inzwischen verwitweter Vater weilte oft bei Tochter und Enkel. Als er während eines Kuraufenthalts in Passugg am 13. August 1913 starb, nahm vier Tage später der grösste Trauerzug, den Zürich bisher gesehen hatte, beim „Schanzenberg“ seinen Anfang.

Trauerzug August Bebel
Der Trauerzug für August Bebel vor der Villa "Belmont" am 17. August 1913.

Im gleichen Jahr erwarb der Kanton den „Schanzenberg“, der seit 1918 schrittweise zum Schulhaus umfunktioniert wurde, um Klassen der trotz der 1909 eröffneten Neuen Kantonsschule aus allen Nähten platzenden Kantonsschule aufzunehmen. Zu einer dieser Klassen gehörte 1920 Elias Canetti, der spätere Nobelpreisträger für Literatur. Mit der Eröffnung der Kantonsschule Rämibühl 1970 konnte die Kantonale Mittelschule für Erwachsene in den „Schanzenberg“ einziehen. Ihr folgte 2000-12 die Pädagogische Hochschule, danach die Universität. O.C.

Emil Georg Bührle (1890-1956), Unternehmer und Mäzen

Submitted by ottavio.clavuot on Thu, 07/08/2021 - 13:14

Als Sohn eines Beamten in Pforzheim geboren, studierte Emil Georg Bührle in Freiburg, München und Berlin Germanistik und Kunstgeschichte. Das Fronterlebnis als Kavallerieoffizier im Ersten Weltkrieg und die Nachkriegssituation in Deutschland führten zur beruflichen Umorientierung. 1919 beteiligte er sich als Mitglied eines Freikorps an der Niederschlagung des Spartakisten-Aufstands in Berlin. Im gleichen Jahr trat er in die Magdeburger Werkzeugmaschinenfabrik ein, die ihn 1924 zur Sanierung der 1923 erworbenen, maroden Werkzeugmaschinenfabrik Oerlikon (WO) nach Zürich schickte. Ganz im Interesse des Auftraggebers an der Umgehung der Rüstungsbestimmungen des Versailler Vertrags setzte Bührle auf die Entwicklung und die Produktion einer 20mm-Flabkanone, die mit Munition und Zubehör bald in vielen Ländern Europas und Asiens Abnehmer fand. Mit dem Geld seines Schwiegervaters, des Magdeburger Bankiers Ernst Schalk, erwarb er 1929 die Aktienmehrheit der WO und wurde 1937 – im Jahr seiner Einbürgerung in der Schweiz – alleiniger Eigentümer. Während des Zweiten Weltkriegs wurde Bührle, der über gute Kontakte zu hohen NS-Funktionären verfügte, mit Billigung des Bundesrats zum wichtigsten Schweizer Waffenlieferanten der Achsenmächte.

Bührle und Guisan
General Henri Guisan 1953 zu Besuch bei Emil Georg Bührle in der WO in Oerlikon.

Gleichzeitig produzierten die USA und Grossbritannien Oerlikon-Bührle-Geschütze in Lizenz. Bührles Vermögen nahm sprunghaft von 8.5 Mio. auf 170,7 Mio. Franken zu. Bei Kriegsende der reichste Schweizer, wurde er einerseits als Aufsteiger, „grösster und skrupellosester Kriegsgewinnler“ und „Nazi-Freund“ heftig angefeindet und war andererseits bestens mit wirtschaftsliberalen und antikommunistischen Kreisen vernetzt sowie als Mäzen geschätzt. Mit dem Beginn des Kalten Kriegs und dem Ausbruch des Koreakriegs 1950 kam das Waffengeschäft der WO, deren ballistische Raketen sehr begehrt waren, erneut in Schwung, und Bührle konnte es sich erlauben, ohne Rücksicht auf die Schweizer Aussenpolitik Rüstungsgüter zu exportieren. In der Folge entwickelte sich das Unternehmen zu einem weitgefächerten Konzern.

Bührle Waffenproduzent
Bührle präsentiert sich 1954 vor ballistischen Raketen, einem der Verkaufsschlager der WO.

Nach dem Erwerb erster Bilder seit 1920 hatte Bührle ab Mitte der 1930er Jahre begonnen, eine neben mittelalterlichen Plastiken und Gemälden alter Meister vor allem Bilder des französischen Impressionismus und der klassischen Moderne umfassende Kunstsammlung aufzubauen. Während er den Grossteil der schliesslich über 600 Bilder nach 1945 auf dem internationalen Kunstmarkt erstand, hatte er während des Zweiten Weltkriegs ohne Bedenken auch Bilder aus geraubten Beständen gekauft. Als Förderer der Kultur gründete er verschiedene Stiftungen und finanzierte den 1958, zwei Jahre nach seinem Tod, eröffneten Ausstellungssaal des Kunsthauses („Bührle-Bau“). Im 2021 eingeweihten Erweiterungsbau des Kunsthauses ist die 1960 von den Erben in eine Stiftung eingebrachte, der Öffentlichkeit zugänglich gemachte Sammlung ein Kernstück der Ausstellung. O.C.

Emil Georg Bührle Mäzen
Bührle inszeniert 1954 sich als Kunstsammler vor Bildern seiner Kollektion.

Neue Kantonsschule, Rämistrasse 74/76

Submitted by admin on Sun, 06/06/2021 - 18:04

Das allgemeine Bevölkerungswachstum, die Gründung des schweizerischen Bundesstaates 1848 und der daraus resultierende wirtschaftliche Aufschwung führten zur raschen Zunahme der Zahl der Kantonsschüler auf 860 im Jahr 1904/05. Der zunehmenden Raumnot und dem Druck, im Interesse der Konkurrenzfähigkeit im globalen Wettbewerb die Qualität der höheren Bildung zu stärken, begegnete die Zürcher Regierung 1906-09 mit dem Bau der „Neuen Kantonsschule“ auf der Wässerwiese oberhalb des Altbaus. Die von Kantonsbaumeister Hermann Fietz (1869-1931) errichtete neubarocke Vierflügelanlage diente der Kantonsschule und dem Chemischen Institut der Universität.

Neue Kantonschule
Universitäts- und Kantonsschulbau, im Vordergrund der Flügel der Neuen Kantonsschule, 1909.

Diese Doppelfunktion manifestiert sich in den beiden mit Jugendstil-Elementen reich geschmückten Portalrisaliten der durch Freitreppen erschlossenen Repräsentationsfassade gegen die Rämistrasse.

Neue Kantonschule Portal
Portal der Kantonsschule.

Während das Realgymnasium in der Alten Kantonsschule verblieb, bezogen die Industrieschule (heute MNG) und die von dieser 1904 organisatorisch abgetrennte Handelsschule (heute Wirtschaftsgymnasium Enge) das neue Gebäude, das auch die naturwissenschaftlichen Fachzimmer der ganzen Kantonsschule beherbergte.

Rämibühl Neue KS Chemielabor
Chemielabor der Kantonsschule, 1965.

Mit dem Bau der Kantonsschule Rämibühl ging das ganze Gebäude 1970 an die Universität über und wurde 2002–04 für das Rechtswissenschaftliche Institut saniert und um einen von Santiago Calatrava (*1951) konzipierten Hofeinbau für die Bibliothek erweitert. O.C.

Kantonschule Rämibühl
Santiago Calatrava, Hofeinbau für die Bibliothek des Rechtswissenschaftlichen Instituts.