Liberalismus

Heinrich Kunz (1793-1859), Industriepionier

Submitted by ottavio.clavuot on Fri, 01/28/2022 - 05:22

In Oetwil am See als Sohn des vermögenden, politisch aktiven Baumwollverlegers und Landwirts Hans Heinrich Kunz (1766-1825) geboren, besuchte Heinrich Kunz 1806-09 die neu eröffnete, bald renommierte Privatschule von Caspar Fierz (1777-1814) in Männedorf. Danach schickte ihn der Vater zur kaufmännischen Ausbildung in die 1806 von Johann Jakob Ziegler (1770-) und dem Isliker Unternehmer Bernhard Greuter (1745-1822) als Spinnerei, Weberei, Färberei und Druckerei gegründete Baumwollfabrik Ziegler-Greuter & Cie.nach Gebweiler im Elsass. Während der rund zwei Jahre dort lernte er die modernsten Techniken der Bauwollverarbeitung und die Herausforderungen eines Grossbetriebs kennen, knüpfte wertvolle Kontakte und gewann die Unterstützung der beiden Fabrikherren bei der Beschaffung handbetriebener Spinnmaschinen. 1811 investierte Hans Heinrich Kunz unter Anleitung seines Sohnes einen beträchtlichen Teil seines Vermögens in die Einrichtung einer mechanischen Spinnerei mit 700 Spindeln im Dachgeschoss des Wohnhauses in der Gusch in Oetwil am See.

Gusch Oetwil am See
Das 1811 von Hans Heinrich Kunz vom Mousselinefabrikanten Hans Heinrich Weber erworbene repräsentative Wohnhaus in der Gusch, in dem Vater und Sohn Kunz die erste Spinnerei einrichteten. 

Der Erfolg des Unternehmens liess Vater und Sohn nach Standorten für eine wasserbetriebene Spinnerei Ausschau halten. Nach zwei erfolglosen Versuchen glückte 1817 die Einrichtung einer Fabrik mit 1560 Spindeln am Aabach in Oberuster, die Heinrich Kunz nach dem Tod des Vaters übernahm. Bereits 1825 konnte er die erste eigene Spinnerei in Niederuster eröffnen, wo er auch die 1831 erstmals importierten Halfselfactors während zwei Jahrzehnten nachbaute. In den folgenden Jahren investierte Kunz seine Betriebsgewinne in die Gründung weiterer Spinnereien in Windisch (1829), Linthal (1839), Rorbas (1840), Kemptthal (1841), Adliswil (1842) und Unter-Aathal (1851). Zu Beginn der 1850er Jahre war er mit 132'000 Spindeln und über 2000 Arbeitern der mit Abstand grösste Spinnereibesitzer in der Schweiz.

Spinnerei Kunz Niederuster
Im Vordergrund das von Heinrich Kunz 1825 errichtete Spinnereigebäude in Niederuster. Foto um 1900.

Er verdankte diesen Erfolg nicht zuletzt der Spezialisierung der Fabriken auf wenige Garnnummern und der hohen Qualität seiner feinen Garne. Das Unternehmen leitete er von Oberuster aus mit Hilfe einiger Vertrauter, darunter seine Schwester Susanna Zollinger-Kunz (1790-1849), die 1829-1841 die Verantwortung für die Spinnerei in Windisch trug. Zur Erschliessung neuer Absatzmöglichkeiten und zum Verfolgen der technischen Entwicklung war Kunz im In- und Ausland unterwegs, so etwa in England, wo er 1851 die Weltausstellung in London besuchte, in Frankreich, Deutschland und Österreich. Ausschlaggebend für die Standortwahl der Fabriken waren erschliessbare Wasserläufe und käufliche Wasserrechte, um die es nicht zuletzt wegen der Missachtung der Nutzungsbeschränkungen durch Kunz zu ständigen Rechtsstreitigkeiten kam. Die Fabrikationsgebäude liess er alle nach dem gleichen Grundmuster errichten: längsrechteckige, meist fünfgeschossige, quer zum Wasserlauf gestellte, schlichte Zweckbauten mit grossen Fenstern, flachem Sattel- oder Walmdach und markantem Quergiebel. Wo Arbeitskräfte vor Ort fehlten, wurden zudem Kosthäuser für Zuzüger gebaut, so etwa in Niederuster (1827) und Windisch (1837).

Längsschnitt Spinnerei Oberuster
Längsschnitt durch die Spinnerei in Oberuster. Kraftübertragung und Produktion erfolgten in den durchgehenden Fabriksälen entlang der Gebäudeachse. Planaufnahme 1984.

Während der persönlich unzugängliche, verhältnismässig bescheiden lebende Kunz die Wohltat von Arbeit und Brot für die wachsende Bevölkerung betonte, prangerten die Kritiker den Spinnerkönigals hartherzigen Schinder an. Tatsächlich entsprachen die Verhältnisse in Kunz’ Spinnereien den damals weit verbreiteten harten Bedingungen: lange Arbeitszeiten, tiefe Löhne, Kinderarbeit trotz kantonalem Verbot, körperliche Züchtigung, Bussgeld, fehlende Kranken- und Unfallversicherung.

Audio file
Auszug aus einem Brief von Kunz an Pfarrer Jakob Amsler in Windisch vom 28. Dezember 1844.

Politisch und sozial engagierte sich Kunz zurückhaltend und vor allem dann, wenn es seinen Interessen entsprach, so war er 1835-47 Mitglied der Zürcher Handelskammer, setzte sich öffentlich für den Strassenbau ein oder unterstützte verschiedene Gemeinden in Notsituationen. Gleichzeitig reduzierte er durch Steuerabsprachen seine Leistungspflicht. Die Unternehmensgewinne investierte er im Laufe der Zeit immer mehr in fremde Spinnereibetriebe, Staatspapiere und in den Eisenbahnbau, so dass sein Vermögen schliesslich zu drei Vierteln aus Finanzwerten bestand.1856 verlegte Kunz den Firmensitz von Oberuster nach Zürich, wohl in den zu diesem Zweck erworbenen Schanzenberg an der Rämistrasse. Als der stets unverheiratet gebliebene, kinderlose Kunz 1859 starb wurde sein auf 17 Millionen Franken geschätztes Vermögen unter seine Geschwister und deren Nachkommen aufgeteilt, nachdem diese unter erheblichem öffentlichem Druck 750‘000 Franken für gemeinnützige Zwecke gespendet hatten. O.C.

Heinrich Kunz
Heinrich Kunz um 1830. Druck nach 1859.

Universität Zürich, Rämistrasse 71

Submitted by ottavio.clavuot on Sun, 01/02/2022 - 05:27

Nach dem Umsturz 1830 leiteten die Liberalen zur langfristigen Sicherung von Wohlstand und Demokratie eine umfassende Bildungsreform ein, zu der neben dem Ausbau der Volksschule auch die Gründung von Kantonsschule (Gymnasium) und Universität gehörten. 1833 nahm die Universität ihren Betrieb in Gebäuden der Fraumünsterabtei, dann im Hinteramt an der Augustinergasse auf. Erst 1864 erhielt sie im Südflügel der von Gottfried Semper für das Eidgenössische Polytechnikum (seit 1905 ETH) erbauten Anlage ein eigenes Schulgebäude. Das starke Wachstum der Universität führte seit 1897 zu Diskussionen über einen Neubau, doch erst nach der Standortwahl im Künstlergüetli auf dem ehemaligen Schanzengelände südlich der ETH und der Definition des Bauprogramms 1907, wurde in einem Architekturwettbewerb das Projekt von Curjel & Moser 1908 zur Ausführung bestimmt.

Künstlergüetli
Für den Bau der Universität abgebrochenen (von rechts): Gustav Wegmanns Ausstellungsbau der Künstlergesellschaft, das Restaurant „Künstlergüetli“ und die Blinden- und Taubstummenanstalt. Foto 1900.

Der 1911-14 realisierte Entwurf sah eine geschickt ins abfallende Gelände eingepasste, asymmetrische Anlage aus den zwei seitlich verschobenen Baukörpern des viergeschossigen Kollegiengebäudes und des dreigeschossigen Biologischen Instituts vor, deren Schnittstelle der stadtseitig 65 Meter hohe, in der Höhe gestaffelte, die Stadtsilhouette prägende Turm markiert.

Universität
Der sich von der symmetrischen Anlage der ETH abhebende, vor der Augenklinik frei ins Gelände eingepasste Gebäudekomplex der Universität. Jenseits der Rämistrasse das alte Kantonsspital. Foto um 1937.

Technisch bestimmen moderne Materialien – Eisenbeton, Stahl, Glas und Leimbinder – den Bau, optisch dominieren Verblendungen aus Verputz, Natur- und Kunststein sowie eine ausserordentlich reiche, mittelalterliche und barocke Elemente aufnehmende Jugendstil-Ornamentik. anz im Sinn des Jugendstils hat Karl Moser – wie im Fall des Kunsthauses – Aussenraum, Architektur, Bauschmuck (Skulptur und Malerei), Beleuchtungskörper und Mobiliar zu einem Gesamtkunstwerk gestaltet.

Universität Eingangshalle Künstergasse
Modifiziert umgesetzte Studie Karl Mosers für die Ausgestaltung der Eingangshalle zum Turm, um 1912.

Gartenterrasse, Bassins und Baumreihen, dazwischen die mit Treppen und Skulpturen dramatisch inszenierten Zugänge zu den plastisch kräftig gegliederten Haupteingängen, rahmen den Gebäudekomplex, dessen stark durchfensterte, über der Sockelzone von pilasterartig ausgebildeten Pfeilern gegliederte Fassaden mit darüberliegenden Mansardenwalmdächern der barocken Schlossarchitektur verpflichtet sind.

Universität Kollegiengebäude
Schlossartig wirkende Fassade gegen die Rämistrasse mit dem mit Treppen, Balustraden, Skulpturen und Kandelabern möblierten Vorplatz.

Das Kollegiengebäude umschliesst einen grossen Lichthof mit Glasbedachung, den sogenannten „Göttergarten“, auf den sich die umlaufenden, mit Kreuzgewölbe und romanisierenden Säulen an klösterliche Kreuzgänge erinnernden Wandelhallen in Arkaden öffnen. Gegen die Rämistrasse öffnet sich der Eingang im halbrund vorspringenden Vorbau, der hinter Kolossalarkaden die Aula, in der Winston Churchill am 19. September 1946 für ein vereintes Europa eintrat, und darunter den Grossen Hörsaal beherbergt. Gegenstück sind die im Halbkreis in den Lichthof ragenden Arkaden des zweiarmig-dreiläufigen Treppenaufgangs zur Aula.

Universität Lichthof
Der Lichthof des Kollegiengebäudes als Ausstellungsraum für die ursprünglich in Sempers Halle in der ETH aufgestellten Gipsabgüsse antiker Statuen. Foto 1914.

Gegen die Künstlergasse wird der Eingang zum Turm durch einen viergeschossigen, von der Tudor-Gotik inspirierten Scheinerker und einen vorgelagerten Säulenportikus markiert. Auch das ehemalige Biologische Institut umschliesst einen Lichthof mit Glasbedachung, in dem die zoologische Sammlung ausgestellt ist und über dem seit 1991 der von Ernst Gisel entworfene, auf vier Pfeiler abgestützte Hörsaal schwebt. Der von monumentalen, durch ein vorspringendes Bogendach verbundenen Doppelsäulen flankierte Eingang ist als Gegenstück des Treppenaufgangs zum Südportal der ETH gestaltet.

Universität Eingang Biologiegebäude
Floreale Formen schmücken den Eingang zum Biologischen Institut.

Obwohl bereits Karl Moser gleich nach Abschluss der Bauarbeiten mehrere Erweiterungsideen entwickelte, so z.B. 1917 das Projekt einer achsensymmetrischen Verdoppelung der Anlage Richtung „Schanzenberg“, ist das Universitätsgebäude mit Ausnahme der von Moser entworfenen Möblierung bis heute weitgehend unverändert erhalten geblieben.

Karl Moser Erweiterungsprojekt Universität
Erweiterungsprojekt für die Universität. Tagebuchnotiz Karl Mosers, 1916.

Neben Ernst Gisels Hörsaaleinbau, stellt der der Neubau der seit 1914 vom Zürcher Frauenverein betriebenen Mensa unterhalb des Kollegiengebäudes 1968/69 nach Plänen von Werner Frei den grössten Eingriff dar. 2001/02 wurde sie im Zusammenhang mit dem Einbau eines unterirdischen Hörsaals durch Gigon/Guyer grundlegend erneuert, ihr Dach begrünt und die Liegewiese vor dem Kollegiengebäude durch ein rosafarbenes Wasserbecken ersetzt. O.C. 

Gustav Albert Wegmann (1812-58), Architekt

Submitted by admin on Sun, 06/06/2021 - 20:05

In Steckborn als Sohn eines württembergischen Kavallerie-Leutnants und einer Zürcher Bankierstochter geboren, studierte Gustav Albert Wegmann 1832-35 am Polytechnikum in Karlsruhe Architektur. Nach der Vertiefung seiner Ausbildung in München 1835-36, arbeitete er seit 1836 als Architekt in Zürich, wo er zusammen mit Ferdinand Stadler und Leonhard Zeugheer die Architekturszene bis zum Auftreten Gottfried Sempers dominierte. 1837 war er zusammen mit Carl Ferdinand von Ehrenberg Mitgründer der Gesellschaft Schweizerischer Ingenieure und Architekten (später Schweizerischer Ingenieur- und Architektenverein SIA).

Gustav Albert Wegmann
Gustav Albert Wegmann als planender Architekt mit Zirkel inszeniert. Anonym, Daguerreotypie, 1840-er Jahre.

Mit ausgesprochenem Sinn für zweckmässige Lösungen, Baumaterialien und Konstruktionen verstand er es, eigenständig die grosse Architektur seiner Zeit den bescheidenen Zürcher Verhältnissen anzupassen. Seine an Karl Friedrich Schinkels Berliner Bauakademie orientierte Alte Kantonsschule ist ein Paradebeispiel dafür. Er war mit den meisten zeitgenössischen Bauaufgaben vertraut und baute für das aufstrebende Bürgertum, den liberalen Staat und die rasch expandierende Wirtschaft.

Gewächshaus Botanischer Garten
Wegmanns grosses Gewächshaus im Botanischen Garten wurde 1977-79 zum Institutsgebäude des Völkerkundemuseums umfunktioniert. Rechnung für die Lieferung von Samen, 1862.

So errichtete er in Zürich etwa das Kantonsspital (1835-42, zusammen mit Leonhard Zeugheer, abgebrochen), die Mädchenschule beim Grossmünster (1850-53), das grosse Gewächshaus des neuen Botanischen Gartens auf dem mit der Entfestigung der Stadt aufgehobenen Bollwerks zur Katz (1836-38), den Bahnhof der Nordbahn (1846-47, abgebrochen), den Freimaurertempel auf dem Lindenhof (1851-54), die Villa Tobler-Stadler an der Winkelwiese (1852-55) oder dieTiefenhöfe am Neumarkt (heute Paradeplatz, 1855-59). O.C.

Grossmünster Mädchenschule
Das anstelle der ehemaligen Stiftsgebäude errichtete Mädchenschulhaus orientiert sich mit den neuromanischen Fassaden am Grossmünster und integriert in seinem Zentrum den rekonstruierten romanischen Kreuzgang. Foto 1913.
Tiefenhöfe

Die „Tiefenhöfe“ waren die ersten Geschäftshäuser am Paradeplatz, dem neuen Verkehrszentrum Zürichs nach 1830. Foto um 1867.

Wegmann Bahnhof Zürich
Wegmanns Nordbahn-Bahnhof (heute Hauptbahnhof) musste 1865 dem von Alfred Escher in Auftrag gegebenen Neubau Jakob Friedrich Wanners weichen. Lithografie eines unbekannten Künstlers, um 1847.

Alte Kantonsschule, Rämistrasse 59

Submitted by admin on Sun, 06/06/2021 - 18:36

Mit dem nach der liberalen Revolution 1832 vom Grossen Rat beschlossenen Unterrichtsgesetz wurde die obligatorische Volksschule eingeführt und die Rechtsgrundlage geschaffen für die Gründung der Kantonsschule und der Universität. So nahm die Kantonsschule Zürich 1833 den Schulbetrieb in zwei selbständigen Abteilungen auf: dem neuhumanistischen Gymnasium (heute Real- und Literargymnasium) und der berufsbildenden Industrieschule (heute MNG Rämibühl). Bis zum Bau eines neuen Schulgebäudes für 300 bis 400 Schüler auf dem Rämibollwerk 1839-42 war die Kantonsschule im alten, 1844 abgebrochenen Stiftsgebäude beim Grossmünster untergebracht. Lange umstritten waren Standort und Architekturstil des Schulhausneubaus. Der schliesslich beauftragte Gustav Albert Wegmann nutzte die prominente Lage auf dem einstigen Bollwerk zur machtvollen Inszenierung des liberalen Bildungsgedankens und des neuhumanistischen Bildungsideals. Erschlossen wird der gesockelte, viergeschossige, klassizistische Kubus mit einem von Blechzinnen verdeckten, zum Innenhof geneigten Pultdach talwärts von einer breiten Freitreppe, die vom Exerzier- und Turnplatz (heute Erweiterungsbau des Kunsthauses) zum Schulgebäude hinaufführte.

Alte Kantonschule

Alte Kantonsschule mit Turnschopf, Turnplatz und Wolfbach-Bassin, Zeichnung von Siegfried, um 1849. Koloriertes Aquatintablatt, erschienen bei Heinrich Füssli & Cie., 1850.

Der dem Bau zugrunde liegende Raster von acht mal sieben bis auf die Portale identischen Fensterachsen wird in der strengen, nur sparsam mit dekorativen Terracotta-Elementen belebten Geometrie der Fassaden- und Fenstereinteilung sichtbar. Die Schulzimmer sind um einen Innenhof angeordnet, der für die Belichtung der Korridore sorgt. Als Vorbild für die Gesamtform, die Stockwerkzahl, die Fassadengliederung sowie für die Grösse und Form der Fenster dieses Pioniers des Schulhausbaus diente Wegmann die 1832-35 von Karl Friedrich Schinkel als Sichtbacksteinbau errichtete Bauakademie in Berlin. Nicht übernommen hat Wegmann Konstruktion und Material seines Vorbilds. Da Ziegel in Zürich um 1840 noch nicht in der erforderlichen Qualität produziert wurden und der Regierungsrat verputzte Mauerflächen wünschte, wählte Wegmann die traditionelle Holzsprengwerkkonstruktion. O.C.

Alte Kantonschule

Alte Kantonsschule, Südfassade mit vorgelagerter Freitreppe.