Der Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger Elias Canetti (1905–1994) besuchte von 1917 bis 1921 das Realgymnasium der Kantonsschule Zürich.
Es gibt in der Geschichte der Rämibühl-Gymnasien wohl niemanden, der die Schule lieber besucht und später mit grösserer Dankbarkeit an seine Schulzeit zurückgedacht hat, als Elias Canetti.
Elias Canetti während seiner Zürcher Schulzeit
Elias Canetti wurde 1905 in Rustschuk in Bulgarien in eine jüdische Familie hineingeboren. Die erste Sprache, die er lernte, war das Spanisch der sephardischen Juden, auch Spaniolisch oder Ladino genannt. Die Eltern sprachen gut Deutsch, verwendeten diese Sprache aber nur, wenn sie von den Kindern nicht verstanden werden wollten und brachten sie ihnen daher auch nicht bei. 1911 entschlossen sie sich dazu, nach Manchester umzuziehen, weil es ihnen in der Kleinstadt Rustschuk zu eng wurde. Nach dem plötzlichen Tod des Vaters mit nur 31 Jahren zog die Mutter 1913 mit den Kindern weiter nach Wien und schliesslich 1916 nach Zürich. Canetti lernte innert kürzester Zeit Englisch, Deutsch und – Schweizerdeutsch.
Nach einem Jahr Primarschule besuchte Canetti ab dem Schuljahr 1917/18 das Gymnasium der Kantonsschule Zürich an der Rämistrasse (zuerst im Gebäude der Alten Kantonsschule, dann auf dem Schanzenberg). Nach der zweijährigen Unterstufe musste er sich zwischen dem altsprachlichen Profil mit Griechisch (dem „Literar-Gymnasium“) und dem „Real-Gymnasium“ mit Latein und modernen Fremdsprachen entscheiden. Er wählte letzteres. Über seine Schulzeit, seine Lehrer und Mitschüler schreibt Canetti ausführlich im ersten Band seiner dreiteiligen Autobiographie, der 1977 unter dem Titel Die gerettete Zunge erschienen ist.
Über den Schüler Canetti schreibt sein Biograph Sven Hanuschek:
Elias Canetti muss ein ungewöhnlicher Schüler gewesen sein. In den 13 Jahren seiner Schulzeit ist er auf fünf Schulen in vier verschiedenen Ländern gegangen. Trotz der Wechsel hatte er überall herausragende Ergebnisse […]. Vielleicht war die grenzenlose Neugier, die vom Erwachsenen überliefert ist, auch schon beim Kind vorhanden. Seine Erinnerungen an die Schulzeit sind fast durchweg positiv, für die Zürcher Jahre sogar begeistert […]. Angesichts der Schulgeschichten anderer Autoren der frühen Moderne ist Canettis Bild seiner Schulzeit durchaus ungewöhnlich.
In Zürich wohnten die Canettis zunächst an der Scheuchzerstrasse 68 im Kreis 6. Als die Mutter nach dem Ende des Ersten Weltkriegs wieder nach Wien umziehen wollte, weigerte sich der 14-jährige Canetti, weil ihm die Schule und ihre Lehrer so gut gefielen. Er durfte bleiben und wurde darauf während zwei Jahren als einziger Knabe im Mädchenpensionat Villa Yalta beim Bahnhof Tiefenbrunnen (Seefeldstrasse 287) einquartiert. Canetti ging in dieser Zeit ganz auf in geistigen Beschäftigungen, im Lernen, Lesen und Schreiben; er sprach später von der einzig wahrhaft glücklichen Zeit seines Lebens. Die Mutter wünschte sich für ihren Sohn aber eine härtere Lebensschule als das friedliche, harmonische Zürich und so musste Canetti noch vor der Matur nach Frankfurt am Main übersiedeln.
Die einzig vollkommen glücklichen Jahre, das Paradies in Zürich, waren zu Ende. Vielleicht wäre ich glücklich geblieben, hätte sie mich nicht fortgerissen. Es ist aber wahr, dass ich andere Dinge erfuhr als die, die ich im Paradies kannte. Es ist wahr, dass ich, wie der früheste Mensch, durch die Vertreibung aus dem Paradies erst entstand.
Elias Canetti, Die gerettete Zunge
Canettis Abgangszeugnis 1921:
Fleiss: sehr gut
Fortschritt: sehr gut
Betragen: gut
Bemerkungen: Muss nach Deutschland.
(Matrikeleintrag im Schülerverzeichnis des Realgymnasiums Rämibühl)
Die Schuljahre in Zürich waren nicht ganz ungetrübt: Während einigen Monaten im Winter 1919/20 mussten Canetti und seine jüdischen Mitschüler antisemitische Sticheleien und Gehässigkeiten von Schulkameraden erdulden. Canetti verfasste eine Petition an den Rektor, die jedoch äusserlich ohne Wirkung blieb. Dennoch hörten die Sticheleien von einem Tag auf den andern plötzlich auf und schlugen gar in Herzlichkeit um. „Die Angriffe waren übrigens, wie ich später erfuhr, auf eine kluge Weise von oben abgestellt worden, ohne Lärm und Aufhebens.“
In Canettis Schulzeit am Realgymnasium fiel 1919 auch die Feier zum hundertsten Geburtstag von Gottfried Keller. Canettis Klasse musste sich eine Lobrede auf Keller in der Predigerkirche anhören. Canetti und einer seiner Mitschüler spotteten über Keller, den sie für eine Lokalberühmtheit hielten, ohne je etwas von ihm gelesen zu haben. Später wurde Canetti zum begeisterten Keller-Leser.
Hätte ich das Glück, im Jahr 2019 am Leben zu sein, und die Ehre, zu seiner Zweihundert-Jahr-Feier in der Predigerkirche zu stehen und ihn mit einer Rede zu feiern, ich fände ganz andere Elogen für ihn, die selbst den unwissenden Hochmut eines Vierzehnjährigen bezwingen würden.
Gerne hätte man diese Rede – vielleicht in der Aula Rämibühl – gehört im Jahr 2019.
Seine letzte öffentliche Lesung hielt Canetti 1983 an einer Feier zum 150. Jubiläum der Kantonsschule Zürich. Zwei Jahre zuvor war ihm der Nobelpreis für Literatur verliehen worden. Eigentlich wollte er damals schon gar keine Lesungen mehr geben, aber er fühlte sich der Schule, „die mich geprägt hat wie keine andere“, verpflichtet: „Ich wäre mir sonst als ein Monstrum der Undankbarkeit vorgekommen.“ C.V.