Arbeiterbewegung (Vereinigungen, Parteien, Philanthropie)

Ulrich Wille (1848-1925), Instruktor, Publizist und General

Submitted by ottavio.clavuot on Fri, 01/28/2022 - 05:17

Ulrich Wille wurde in Hamburg in eine wohlhabende Familie aus dem Kaufmanns- und Reedermilieu geboren. Der Vater François Wille (1811-96), ein überzeugter Demokrat, war journalistisch und politisch tätig, die Mutter Eliza Sloman (1809-93) verfasste Gedichte und Prosa. Nach dem Scheitern der Revolution 1848/49 emigrierte die Familie und erwarb 1851 das Landgut „Mariafeld“ in Feldmeilen. Hier wuchs Ulrich Wille in einem offenen Haus auf, das als politischer und kultureller Treffpunkt Gäste wie Conrad Ferdinand Meyer, Gottfried Semper, Richard Wagner und Gottfried Keller frequentierten.

Feldmeilen Landgut Mariafeld
Landgut „Mariafeld“ in Feldmeilen. Postkarte.

1865-69 studierte er in Zürich, Halle und Heidelberg Recht. Nach dem deutsch-französischen Krieg 1870/71, entschloss er sich Instruktionsoffizier der Artillerie zu werden. Ausbildungsgänge in einem preussischen Artillerieregiment, an der Artillerie- und Ingenieursschule in Berlin sowie an der Eidgenössischen Instruktorenschule bereiteten ihn auf die berufliche Tätigkeit in Thun ab 1872 vor. Im gleichen Jahr heiratete er Clara von Bismarck (1851-1946), die Tochter des württembergischen Generalleutnants Friedrich Wilhelm Graf von Bismarck (1783-1860). Neben dem Dienst auf dem Waffenplatz engagierte sich Wille publizistisch für die angesichts der Technisierung des Krieges erforderliche Neuausrichtung der Militärinstruktion nach preussisch-deutschem Vorbild: Erziehungsdrill und strenge Führung sollten Offiziersautorität und unbedingte Soldatendisziplin stärken und dadurch die Milizarmee kriegstüchtig und die Gesellschaft im Wettbewerb der Völker überlebensfähig zu machen.

Audio file
Ulrich Wille zur Rolle von Disziplin und Drill.

1883-92 wirkte er als Oberinstruktor der Kavallerie. Während dieser Zeit wohnte er einige Jahre in der Villa „Belmont“ an der Rämistrasse. Nach der Beförderung zum Waffenchef der Kavallerie 1892 spitzte sich der Konflikt zwischen Wille und den Vertretern des traditionellen Verständnisses der Milizarmee als bewaffnete Gemeinschaft freier Bürger zu. Schliesslich schied Wille 1896 als Berufsmilitär aus und wurde publizistisch aktiv. Er übernahm 1901 die Redaktion der „Allgemeinen Schweizerischen Militärzeitschrift“ und wirkte seit 1903 als Dozent, 1907-12 als Professor für Militärwissenschaft am Eidgenössischen Poytechnikum (ab 1905 ETH). Damit einher ging die Durchsetzung seiner Ausbildungskonzeption in den militärischen und politischen Führungszirkeln. So erhielt er, 1904 zum Korpskommandanten ernannt, die Gelegenheit seine Vorstellungen umzusetzen, die 1907/08 im Militärorganisationsgesetz und den Ausbildungszielen der Armee auch offiziell verankert wurden. 1912 wurde ihm die Leitung der „Kaisermanöver“ anlässlich des Staatsbesuchs Wilhelms II. übertragen.

Kaisermanöver 1912
Korpskommandant Ulrich Wille (ganz rechts) neben Kaiser Wilhelm II. mit schweizerischen und deutschen Offizieren bei den Kaisermanövern im St. Gallischen Kirchberg 1912.

Nach dem Ausbruch des 1. Weltkriegs setzte sich der deutschfreundliche Wille gegen Theophil Sprecher von Bernegg, den eigentlichen Favoriten des Parlaments, dank bundesrätlicher Unterstützung in der Generalswahl am 3. August 1914 durch. In den folgenden Jahren trieb er die überfällige waffentechnische Modernisierung der Armee voran, während er das Truppenaufgebot für die Grenzbesetzung der Bedrohungslage entsprechend auf möglichst tiefem Niveau hielt. Im Soldatentum moralisch geformte Männlichkeit und staatsbürgerlicher Pflichterfüllung sehend, zeigte er wenig Verständnis für die sich während des Krieges verschärfenden sozialen und wirtschaftlichen Nöte breiter Bevölkerungskreise. Zudem verstärkte er durch seine die Neutralität verletzende Begünstigung der Mittelmächte die Spannungen zwischen der West- und der Deutschschweiz.

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Ulrich Wille zum Wehrwesen als Volkserziehung.
General Ulrich Wille
General Ulrich Wille. Postkarte 1914.

Seit 1917 liessen Versorgungsengpässe und Inflation die Arbeitskämpfe und den Unmut in der Truppe eskalieren, heizten die Oktoberrevolution in Russland, die klassenkämpferischen Parolen der SPS, die sozialen und wirtschaftlichen Forderungen des Oltener Aktionskomitees und die beschränkte Reformbereitschaft des bürgerlichen Bundesrats die innenpolitischen Spannungen an. Als Ende September/Anfang Oktober 1918 die Zürcher Bankangestellten mit Unterstützung der Arbeiterunion streikten und nach dem Zusammenbruch der Mittelmächte einen Monat später Deutschland am Rand der Revolution stand, drängten die Schweizerische Bankiervereinigung und Wille den zögernden Bundesrat zur militärischen Besetzung der Städte Zürich und Bern mit Kavallerie und Infanterie. Was der präventiven Einschüchterung dienen sollte, löste einen Proteststreik in 19 Ortschaften der Schweiz aus, den die Zürcher Arbeiterunion in eigener Regie weiterführen wollte, so dass sich das überrumpelte Oltener Aktionskomitee am 11. November gezwungen sah, einen unbefristeten Landesstreik auszurufen. Nach einem Ultimatum des Bundesrats brach das Oltener Aktionskomitee den Streik am 14. November bedingungslos ab, um eine Gewalteskalation zu verhindern. Für den folgenden Tag ordnete Wille als nochmalige Machtdemonstration trotz der grassierenden „Spanischen Grippe“ ein Defilee der Ordnungstruppen in Zürich an. Einen knappen Monat später trat er als General zurück. O.C.

Landesgeneralstreik Defilee
Defilee der Ordnungstruppen vor General Ulrich Wille und dem Ortskommandanten Oberstdivisionär Emil Sonderegger auf dem Mythenquai am 15. November 1918.

Susanna Orelli-Rinderknecht (1845-1939), Sozialunternehmerin

Submitted by ottavio.clavuot on Fri, 01/28/2022 - 05:16

Als Tochter eines wohlhabenden Bauern in Oberstrass geboren, besuchte Susanna Rinderknecht nach der Primarschule die Landtöchterschule in Zürich und vervollständigte ihre Ausbildung in hauswirtschaftlichen Kursen und während eines viermonatigen Welschlandaufenthalts. Zusammen mit ihrer Mutter war sie schon früh in der Armen- und Krankenfürsorge tätig, später dann im „Hilfsverein für entlassene Geisteskranke“ der „Irrenheilanstalt Burghölzli“. Durch diese Tätigkeit kam sie in Kontakt mit dem Klinikleiter und Psychiater Auguste Forel (1848-1931), einem der führenden Vertreter der Abstinenzbewegung. Für damalige Verhältnisse sehr spät, heiratete Susanne Rinderknecht 1881 den verwitweten, 23 Jahre älteren Mathematikprofessor Johannes Orelli und zog in dessen Wohnung am Zeltweg 12 ein.

Susanna Orelli 1919
Susanna Orelli. Foto 1919.

Nachdem ihr Ehemann bereits 1885 gestorben war, begann sie sich zunächst in der „Freiwilligen- und Einwohnerarmenpflege“, dann im 1877 gegründeten „Blauen Kreuz“ im Kampf gegen den weit verbreiteten Alkoholismus zu engagieren. Das eidgenössische Alkoholmonopol 1885 und die eidgenössische Alkoholordnung 1887 führten zur Reduktion der Zahl der Gaststätten und des Alkoholkonsums. Gleichzeitig propagierten Auguste Forel und Louis-Lucien Rochat (1849-1917), der Gründer des „Blauen Kreuzes“ die Einrichtung alkoholfreier Kaffeehäuser nach englischen Vorbildern als Alternative zu den traditionellen Wirtschaften. Susanna Orelli nahm diese Idee auf und gründete zusammen mit einigen gleichgesinnten Frauen 1894 den „Frauenverein für Mässigkeit und Volkswohl“ (seit 1910 „Zürcher Frauenverein für alkoholfreie Wirtschaften“) mit dem Ziel, eine selbsttragende Kaffeestube zu eröffnen, in der günstig Kaffee, Kuchen und Frühstück konsumiert, aber auch einfach geplaudert und gelesen werden konnte.

Restaurant Olivenbaum 1895
Gaststube des 1904 gegründeten Restaurants "Olivenbaum" an der Stadelhoferstrasse 10. Foto 1904.

Die Kaffeestube „Zum kleinen Martahof“ an der Stadelhoferstrasse war vom ersten Augenblick an so erfolgreich, dass der Frauenverein 1895 zwei alkoholfreie Restaurants eröffnete und eine Betriebskommission einrichtete. Als deren Leiterin erwies sich Susanna Orelli bis zu ihrem Rückzug 1920 als dynamische und erfolgreiche Unternehmerin: Sie trieb die Einrichtung weiterer Gaststätten in der Stadt und des „Alkoholfreien Volks- und Kurhauses Zürichberg“ (1900) voran, stieg 1897 in die Hotellerie und 1914 mit der Übernahme der Mensa im neuen Kollegiengebäude der Universität in die Kantinengastronomie ein. Mehr als ein halbes Jahrhundert später sollte der Frauenverein auch die Mensa der Kantonsschule Rämibühl übernehmen.

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Jubiläumsbild des Zürcher Frauenvereins mit den bis 1910 eröffneten Betrieben.

Aus sozialen und wirtschaftlichen Überlegungen sorgte Susanna Orelli dafür, dass die Serviertöchter eine gute Ausbildung, einen festen Monatslohn statt Trinkgeld, geregelte Arbeitszeiten und eine vom Betrieb finanzierte Kranken-, Unfall- und Altersvorsorge erhielten. 1908 gründete sie eine eigene Vorsteherinnenschule. Kaffee, Schokolade und Tee waren die favorisierten nichtalkoholischen Getränke als Susanna Orelli über Auguste Forel Hermann Müller-Thurgau (1850-1927), den ersten Direktor der 1891 gegründeten „Deutsch-schweizerischen Versuchsstation und Schule für Obst-, Wein- und Gartenbau“ (heute Agroscope) in Wädenswil kennenlernte, der mit der Pasteurisierung von unvergorenem Traubensaft experimentierte. Sie unterstützte Müller-Thurgaus Idee, das Verfahren für die industrielle Produktion von Obst- und Traubensaft weiterzuentwickeln und versprach Ausschank und Propagierung dieser gesunden und haltbaren Getränke durch den Frauenverein. 1896 wurde in Bern das erste Schweizer Unternehmen gegründet, das seit 1897 auch in Meilen pasteurisierte Säfte herstellte und so auch der Landwirtschaft neue Möglichkeiten der Obstverwertung eröffnete.

Süssmost statt5 Schnaps 1927
Plakat von Dora Hauth-Trachsler für einen unbekannten Auftraggeber, 1927.

Neben ihrer Tätigkeit im Frauenverein, unterstützte Susanna Orelli tatkräftig das 1910 schliesslich realisierte Projekt eines alkoholfreien Volkshauses in Zürich mit Restaurationsräumen, Veranstaltungs- und Lesesälen, Büros für Arbeiterorganisationen sowie Badegelegenheiten. Nach dem Ausbruch des 1. Weltkriegs beteiligte sie sich 1914 an der Gründung eines „Gemeinnützigen Vereins für alkoholfreie Verpflegung der Truppen“ und 1918 an der Einrichtung der „Schweizerischen Stiftung zur Förderung von Gemeindestuben und Gemeindehäusern“, in denen neben günstigen Malzeiten auch Veranstaltungen zur Volksbildung angeboten werden sollten. O.C.

Karl Bürkli (1823-1901), Sozialist

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Geboren als Sohn eines Zürcher Seidenfabrikanten und Obersten, absolvierte Karl Bürkli nach dem Abbruch der Untergymnasiums 1839-42 eine Gerberlehre. Auf der Walz kam er 1845-47 in Paris mit den frühsozialistischen Theorien Charles Fouriers, Claude Henri de Saint-Simons, Pierre Joseph Proudhons und Robert Owens in Kontakt. Vor allem Fouriers Vision einer anarchischen, nicht auf der Familie aufbauenden Gesellschaft aus Grosskommunen (Phalanstères) auf der Grundlage landwirtschaftlich-gewerblicher Produktion, beeindruckten ihn.

Phalanstère
Charles François Daubigny (1817-78). Idealzeichnung eines Phalanstère nach der Theorie von Charles Fourier. Auftrag der Ecole sociétaire, lithografiert in der Druckerei Prodhomme und herausgegeben von H. Fugère, Paris. 1847.

Zurück in Zürich engagierte er sich zusammen mit Johann Jakob Treichler (1822-1906) im und ausserhalb des Grossrats (heute Kantonsrat) für die direkte Demokratie, die Verbesserung des Schulwesens, die Einführung von Progressiv- und Erbschaftssteuern sowie die Gründung einer Kantonalbank. 1851 trat er dem „Grütliverein“ bei und gründete mit Treichler und weiteren Genossen den ersten Konsumverein der Schweiz, den „Konsumverein Zürich“. 1853 bestanden bereits fünf Konsumläden, die auch das Rückgrat einer Art sozialistischer Parteiorganisation bildeten. Genossenschafter waren meist Arbeiter der Zürcher Industriebetriebe. Der Versuch, mit einer Schar Gleichgesinnter in Texas eine Phalanstère zu gründen, scheiterte 1855/56 an innerem Streit und an äusseren Widerständen.

Bürkli Kantonalbank
Titelblatt von Karl Bürklis Schrift „Eine Kantonalbank, aber keine Herren-, sondern eine Volksbank“ von 1866.

Nach seiner Rückkehr nach Zürich 1858 widmete sich der ewige Junggeselle wieder in Rede und Schrift dem Kampf für die friedliche Überwindung des Kapitalismus. Bürklis Gastwirtschaft an der Metzgergasse wurde 1861-87 zu einem Begegnungsort Oppositioneller und Bürkli selbst zu einem führenden Kopf der demokratischen Bewegung. 1866 trat er der Ersten Internationale bei und war 1867-76 Gründer und Präsident ihrer Zürcher Sektion. Als Mitglied der 35er-Kommission des Verfassungsrats trug er 1868/69 wesentlich dazu bei, dass verschiedene seiner Forderungen in der neuen Kantonsverfassung verwirklicht wurden. Seit 1869 immer wieder Kantonsrat schloss er sich der im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts entstehenden sozialdemokratischen Arbeiterbewegung an. Neben alten Forderungen vertrat er nun etwa auch die Einführung des Proporzwahlrechts. O.C.

Karl Bürkli
Karl Bürkli. Foto wohl um 1895.

August Bebel (1840-1913), Sozialistenführer und Unternehmer

Submitted by ottavio.clavuot on Fri, 01/28/2022 - 05:06

In Deutz bei Köln in ärmlichen Verhältnissen geboren und früh Vollwaise, erlernte August Bebel 1854-57 in Wetzlar das Drechslerhandwerk. Zu Beginn der Walz trat er 1858 dem „Katholischen Gesellenverein“ bei. 1860 liess er sich in Leipzig nieder, wo er sich im 1861 gegründeten „Gewerblichen Bildungsverein“ und in der liberal-demokratischen Arbeiterbewegung engagierte.

Gesellenbüchlein August Bebels
August Bebels Wanderbüchlein des „Katholischen Gesellenvereins“.

Die Begegnung mit Wilhelm Liebknecht (1826-1900), der in London von Karl Marx und Friedrich Engels beeindruck worden war, brachte 1865 Bebels Hinwendung zum politischen Sozialismus. Zusammen mit Liebknecht gründete er 1869 die Sozialdemokratische Arbeiterpartei, die sich 1875 mit dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAP, seit 1890 SPD) vereinigte. Als Redner, Autor und Mitglied des Deutschen Reichstags entwickelte sich Bebel während der Geltung des Bismarckschen Sozialistengesetzes 1878-90 zum Führer der deutschen Sozialdemokratie – eine Stellung, die 1892 durch seine Wahl zu einem der beiden Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands Anerkennung finden sollte.

Väter der Arbeiterbewegung
Gründer und Kämpfer der sozialdemokratischen Partei: Im Zentrum Karl Marx, oben August Bebel und Wilhelm Liebknecht, unten Carl Wilhelm Tölcke und Ferdinand Lasalle. 

Während des Verbots der ausserparlamentarischen politischen Arbeit nutzten die deutsche Sozialdemokratie und ihre Exponenten Zürich als rückwärtigen Stützpunkt. Bebel und Liebknecht schlugen vor, das Parteiblatt im Verlag des Schweizerischen Arbeiterbundes der „Schweizerischen Vereinsbuchdruckerei & Volksbuchhandlung“ herauszugeben. So erschien „Der Sozialdemokrat“ unter der Redaktion Eduard Bernsteins (1850-1932) seit 1879 in Hottingen – 1882-88 an der Kasinostrasse 3. Hier wurde auch Bebels in Deutschland verbotenes Buch „Die Frau und der Sozialismus“ 1879 gedruckt.

August Bebel
Schweizer Illustrierte mit Porträt August Bebels anlässlich seines Todes.

Nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes hielt sich Bebel immer wieder in Zürich auf, wohin seine Tochter Frieda 1891 geheiratet hatte. Der seit 1864 auch als Unternehmer erfolgreiche Bebel liess 1897 als Zürcher Absteige die „Villa Julie“ (Seestrasse 176) in Küsnacht bauen. Ab 1912 war er häufiger Gast bei seiner verwitweten Tochter und seinem Enkel im „Schanzenberg“ an der Rämistrasse. Nach seinem Tod während eines Kuraufenthalts der drei in Passugg am 13. August 1913, nahm vier Tage später der bis dahin grösste Trauerzug in Zürich beim „Schanzenberg“, wo sich etwa 15‘000 Menschen versammelten hatten, seinen Anfang. Nach einem Zwischenhalt beim Volkshaus, wo gegen 50‘000 Personen am aufgebahrten Bebel vorbei defilierten, wurde der Sarg in feierlichem Umzug zum Friedhof Sihlfeld gebracht. O.C.

Katholisches Gesellenhaus, Wolfbachstrasse 15

Submitted by ottavio.clavuot on Thu, 12/16/2021 - 03:48

Deutschen Vorbildern entsprechend liess der Katholische Gesellenverein 1888-89 das erste Gesellenhaus der Schweiz nach Plänen von Alfred Chiodera und Theophil Tschudy errichten, um hundert wandernden Handwerksburschen Kost und Logis anbieten zu können. Finanziert wurde der fünfgeschossige, L-förmige Bau durch Mitgliederbeiträge, Spenden und einen Kredit der Schwyzer Kantonalbank. Unter dem mächtigen Walmdach befand sich der in vorne und oben offene Kojen unterteilte Schlafsaal. Die unteren Geschosse nahmen Büros, Fremdenzimmer, Küche, Speisesaal, Restaurant, Aufenthaltsräume, Kegelbahn und den zweigeschossigen Festsaal mit ionischen Kolossalsäulen und Emporen auf.

Wolfbachstrasse 15 Festsaal
Der zweigeschossige Festsaal mit Bühne war zur Bauzeit einer der grössten Säle Zürichs. Foto um 1910.

Gegen die Wolfbachstrasse ist die historistische Sichtbacksteinfassade mit kräftigem Bruchsteinsockel, prunkvollem Neurenaissance-Portal und Pilasterordnung mit grosszügigen Bogenfenstern in den Obergeschossen repräsentativ gestaltet. Elemente des Schweizer Holzstils schmücken die Lukarnen.

Wolfbachstrasse 15
Im Gegensatz zur Fassade gegen die Wolfbachstrasse sind die übrigen Gebäudefronten verputzt und ohne Schmuck.

Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung Zürichs nach der Bundesstaatsgründung 1848 und der Garantie der Glaubensfreiheit durch die neue Bundesverfassung nahm die Zuwanderung aus katholischen Gebieten der Schweiz und des Auslands sprunghaft zu. Die Lebensbedingungen der Arbeitsuchenden waren oft schwierig, ganz besonders für die wandernden Gesellen. So wurde 1863, angeregt durch die vom Kölner Priester Adolph Kolping (1813-65) 1849 initiierte religiöse und sozialreformerische Gesellenbewegung, der Katholische Gesellenverein (heute Kolpinghausverein Zürich) in Zürich gegründet. Durch Bildung und religiös-soziale Bindung sollten gesellschaftlicher Abstieg, Entfremdung vom Christentum und sozialistisch-kommunistische Beeinflussung der wandernden Gesellen verhindert werden. Vor der Errichtung der Liebfrauenkirche (1893/94) und der Sankt Antoniuskirche (1907) war das Gesellenhaus zudem das kirchliche Zentrum für die rund 17’000 Stadtzürcher Katholiken rechts der Limmat. Der rund 700 Personen fassende Festsaal diente der katholischen Diaspora für Bazare, Ausstellungen, Tagungen, Feiern und der untere Saal 1891-1907 auch als Kirchenraum.

Wolfbachstrasse 15 Kapelle
Der Altar im unteren Saal des Gesellenhauses, der 1891-1907 als Kapelle dienste.

Mit dem Ausbruch des 1. Weltkriegs 1914 brach die Belegung des Gesellenhauses ein, da die ausländischen Gesellen in ihre Heimat zurückkehrten. Nach dem Krieg erholte sich der Betrieb nur langsam und litt trotz Modernisierung des Hauses 1929 erneut unter dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise und des 2. Weltkriegs. Angesichts des wachsenden Wohlstands und Individualismus seit den 1950er Jahren entsprachen das karge Wohnangebot und der reglementierte Tagesablauf des Gesellenhauses immer weniger den gesellschaftlichen Bedürfnissen, so dass der Verein das Haus schliesslich 1980 verkaufte. Bis 1994 scheiterten alle Bemühungen um eine neue Zweckbestimmung und Sanierung des Gebäudes, dessen Inneres 1984 noch vor einer Unterschutzstellung gezielt zerstört wurde. So wurde 1994/94 innerhalb der alten, sorgfältig restaurierten Fassaden ein vollständig neues Büro- und Wohnhaus errichtet. O.C.