Was haben ein Dopingskandal beim Wunder von Bern, eine Hölle in Jena, die Apotheke eines Onkels, die Judenpogrome von 1905, ein Nobelpreis, das MNG, 30 Hormone der Nebennierenrinde und Farne miteinander zu tun?
Das ist ein Text über Tadeus Reichstein. Wer?
Tadeus Reichstein war 1912-16 Schüler der Industrieschule (heute MNG Rämibühl). Er war ein bedeutender, 1914 eingebürgerter Schweizer Chemiker, der erst mit den Nobelpreisträgern Hermann Staudinger (1881-1965) und Leopold Ružička (1887-1976) an der ETH und später als Leiter des Pharmazeutischen (ab 1938) wie auch des Organisch-Chemischen Instituts der Universität Basel (ab 1960) bedeutende Arbeit auf dem Gebiet der Naturstoffe geleistet hat, wofür er 1950 selber mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet worden ist.
An dieser Stelle dürfte man jetzt eine Darstellung seines Werdegangs erwarten – das Fliehen vor antisemitischer Gewalt in Kiew und das Heimatfinden in Zürich ab 1906, eine Auflistung der akademischen Stationen, abgeschlossen von einer Würdigung seines Schaffens. Ich schreibe «dürfte», denn wie soll man einem so ereignisreichen Leben mit einem so kurzen Text gerecht werden. Allein für eine angemessene Darstellung seiner Synthese von Vitamin C im Jahr 1933 oder seiner umfassenden Erforschung der Steroide wäre eine Doppelseite kaum ausreichend. Und da wären die weitreichenden medizinischen (Bsp.: Cortison), industriellen (Biotechnologische Grossproduktion) und gesellschaftlichen (Dopingskandal 1954 und Vitamanie) Folgen noch nicht einmal mit drin.
Ich möchte den Fokus stattdessen auf einen Begriff legen, welcher sich wie ein roter Faden durch die autobiographischen Kommentare Reichsteins zieht – das Glücklichsein. Als Kind sei er nirgendwo so glücklich gewesen, wie wenn er in der Apotheke seines Onkels dabei helfen durfte, Pillen zu drehen oder Sirupe zu kochen. Reichstein war sich sicher, dass es diese Beschäftigung war, die in ihm diese unbändige naturwissenschaftliche Neugier entfachte, die ihn ein ganzes Leben lang treu begleiten sollte. Sein Augenmerk lag nicht auf dem schrecklichen Anblick der Pogromopfer oder seiner eigenen Hölle von Jena, wo der schmächtige Tadeus als Internatsschüler unter den körperlichen Züchtigungen der Lehrer litt, sondern auf der glücklichen Kindheit, die folgte, als er mit seiner Familie in Zürich wiedervereint war. Er beklagte nicht, dass er trotz eines ausgezeichneten Diploms in chemischen Ingenieurwissenschaften von der ETH erst nur eine Stelle in einer kleinen Taschenlampen-Firma in Rorschach finden konnte. Vielmehr betonte er, dass dies eine der glücklichsten Zeiten seines Lebens gewesen sei, da er mit dem Geld seine durch den Weltkrieg finanziell in Nöte geratene Familie entlasten konnte.
Es ist bezeichnend, dass dieser so vielseitig am Leben interessierte Mensch auch die Zeit nach seiner Emeritierung dazu nutzte, seiner Neugier zu frönen. Reichsteins Garten im Bruderholz war weithin als botanisches Paradies bekannt. Und wie es sich für einen wahren Forschergeist gehört, konnte es nicht ausschliesslich beim Gärtnern bleiben. Von seiner Pensionierung 1967 bis zu seinem Tod 1997 im Alter von 99 Jahren veröffentlichte Reichstein noch 100 Arbeiten zur Systematik, Chemotaxonomie, Cytologie und Micromorphologie der Farne.
Fazit: Ist sich ein Mensch seiner selbst bewusst – seiner Fähigkeiten, seiner Schwächen, seiner Leidenschaften – vermögen ihn noch so viele Umwege und Hindernisse nicht von einem glücklichen und erfüllten Leben abzuhalten. R.O.
Als Tochter eines wohlhabenden Bauern in Oberstrass geboren, besuchte Susanna Rinderknecht nach der Primarschule die Landtöchterschule in Zürich und vervollständigte ihre Ausbildung in hauswirtschaftlichen Kursen und während eines viermonatigen Welschlandaufenthalts. Zusammen mit ihrer Mutter war sie schon früh in der Armen- und Krankenfürsorge tätig, später dann im „Hilfsverein für entlassene Geisteskranke“ der „Irrenheilanstalt Burghölzli“. Durch diese Tätigkeit kam sie in Kontakt mit dem Klinikleiter und Psychiater Auguste Forel (1848-1931), einem der führenden Vertreter der Abstinenzbewegung. Für damalige Verhältnisse sehr spät, heiratete Susanne Rinderknecht 1881 den verwitweten, 23 Jahre älteren Mathematikprofessor Johannes Orelli und zog in dessen Wohnung am Zeltweg 12 ein.
Nachdem ihr Ehemann bereits 1885 gestorben war, begann sie sich zunächst in der „Freiwilligen- und Einwohnerarmenpflege“, dann im 1877 gegründeten „Blauen Kreuz“ im Kampf gegen den weit verbreiteten Alkoholismus zu engagieren. Das eidgenössische Alkoholmonopol 1885 und die eidgenössische Alkoholordnung 1887 führten zur Reduktion der Zahl der Gaststätten und des Alkoholkonsums. Gleichzeitig propagierten Auguste Forel und Louis-Lucien Rochat (1849-1917), der Gründer des „Blauen Kreuzes“ die Einrichtung alkoholfreier Kaffeehäuser nach englischen Vorbildern als Alternative zu den traditionellen Wirtschaften. Susanna Orelli nahm diese Idee auf und gründete zusammen mit einigen gleichgesinnten Frauen 1894 den „Frauenverein für Mässigkeit und Volkswohl“ (seit 1910 „Zürcher Frauenverein für alkoholfreie Wirtschaften“) mit dem Ziel, eine selbsttragende Kaffeestube zu eröffnen, in der günstig Kaffee, Kuchen und Frühstück konsumiert, aber auch einfach geplaudert und gelesen werden konnte.
Die Kaffeestube „Zum kleinen Martahof“ an der Stadelhoferstrasse war vom ersten Augenblick an so erfolgreich, dass der Frauenverein 1895 zwei alkoholfreie Restaurants eröffnete und eine Betriebskommission einrichtete. Als deren Leiterin erwies sich Susanna Orelli bis zu ihrem Rückzug 1920 als dynamische und erfolgreiche Unternehmerin: Sie trieb die Einrichtung weiterer Gaststätten in der Stadt und des „Alkoholfreien Volks- und Kurhauses Zürichberg“ (1900) voran, stieg 1897 in die Hotellerie und 1914 mit der Übernahme der Mensa im neuen Kollegiengebäude der Universität in die Kantinengastronomie ein. Mehr als ein halbes Jahrhundert später sollte der Frauenverein auch die Mensa der Kantonsschule Rämibühl übernehmen.
Aus sozialen und wirtschaftlichen Überlegungen sorgte Susanna Orelli dafür, dass die Serviertöchter eine gute Ausbildung, einen festen Monatslohn statt Trinkgeld, geregelte Arbeitszeiten und eine vom Betrieb finanzierte Kranken-, Unfall- und Altersvorsorge erhielten. 1908 gründete sie eine eigene Vorsteherinnenschule. Kaffee, Schokolade und Tee waren die favorisierten nichtalkoholischen Getränke als Susanna Orelli über Auguste Forel Hermann Müller-Thurgau (1850-1927), den ersten Direktor der 1891 gegründeten „Deutsch-schweizerischen Versuchsstation und Schule für Obst-, Wein- und Gartenbau“ (heute Agroscope) in Wädenswil kennenlernte, der mit der Pasteurisierung von unvergorenem Traubensaft experimentierte. Sie unterstützte Müller-Thurgaus Idee, das Verfahren für die industrielle Produktion von Obst- und Traubensaft weiterzuentwickeln und versprach Ausschank und Propagierung dieser gesunden und haltbaren Getränke durch den Frauenverein. 1896 wurde in Bern das erste Schweizer Unternehmen gegründet, das seit 1897 auch in Meilen pasteurisierte Säfte herstellte und so auch der Landwirtschaft neue Möglichkeiten der Obstverwertung eröffnete.
Neben ihrer Tätigkeit im Frauenverein, unterstützte Susanna Orelli tatkräftig das 1910 schliesslich realisierte Projekt eines alkoholfreien Volkshauses in Zürich mit Restaurationsräumen, Veranstaltungs- und Lesesälen, Büros für Arbeiterorganisationen sowie Badegelegenheiten. Nach dem Ausbruch des 1. Weltkriegs beteiligte sie sich 1914 an der Gründung eines „Gemeinnützigen Vereins für alkoholfreie Verpflegung der Truppen“ und 1918 an der Einrichtung der „Schweizerischen Stiftung zur Förderung von Gemeindestuben und Gemeindehäusern“, in denen neben günstigen Malzeiten auch Veranstaltungen zur Volksbildung angeboten werden sollten. O.C.
Nach dem liberalen Umsturz 1830 baute der Kanton nicht nur eine moderne Infrastruktur für Bildung und Verkehr auf, sondern auch für das Gesundheitswesen, mit der Einrichtung einer medizinischen Fakultät an der 1833 gegründeten Universität und eines Kantonsspitals. 1836 beschloss der Kantonsrat den Bau einer kantonalen Krankenanstalt für 150 Patienten, auf dem auch vom Land her gut erreichbaren ehemaligen Schanzenvorgelände der ersten Hangterrasse des Zürichbergs oberhalb der späteren Rämistrasse. Im Gegensatz zum bisherigen Spital in den Gebäuden des einstigen Predigerklosters sollte das neue Spital weniger der Versorgung und Verwahrung Kranker und Armer dienen als vielmehr der Behandlung heilbarer Patienten mit den Mitteln der universitären Medizin. Die 1837-42 nach Plänen von Gustav Albert Wegmann und Leonhard Zeugheer errichtete Spitalanlage gewann internationale Anerkennung. Der 178 Meter lange, symmetrisch aus einem dreigeschossigen, H-förmigen Mitteltrakt und zwei zweigeschossigen, L-förmigen Seitenflügeln bestehende Hauptbau beherbergte die Klinik für Innere Medizin und die Chirurgie.
Die Anatomie mit Hörsaal, Sammlungs- und Nebenräumen sowie die Abteilung für Infektionskrankheiten wurden aus hygienischen Gründen etwas abseits in eigenen Gebäuden untergebracht. Seit Mitte der 1870-er Jahre führten die zunehmende Spezialisierung der medizinischen Wissenschaften und die Ausweitung der Bettenzahl zur schrittweisen Überbauung der Hangzone hinter dem Hauptgebäude mit neuen Spezialkliniken.
Nach längeren Diskussionen über eine grundlegende Modernisierung des Spitals wurde 1933/34 ein Ideenwettbewerb für einen Spitalneubau mit 1200 Betten beim Burghölzli ausgeschrieben. Durch die Verkürzung der Plattenstrasse und die Verlängerung der Gloriastrasse an die Rämistrasse schuf der Regierungsrat 1937 Raum für einen Spitalneubau am alten Standort in unmittelbarer Nähe zur Universität. Mit der Planung wurden die Preisträger des Ideenwettbewerbs beauftragt, die sich 1939 zur „Architektengemeinschaft für das Kantonsspital Zürich“ (AKZ) zusammenschlossen. Federführend waren Haefeli Moser Steiger (HMS: Max Ernst Haefeli, Werner M. Moser, Rudolf Steiger) und Hermann Fietz (1898-1977). Zur Organisation und architektonischen Bewältigung der vielfältigen Funktionen der Krankenversorgung, Lehre und Forschung eines modernen, effizienten Universitätsspitals gab es verschiedene, damals international diskutierte Konzepte (lineare oder kammartige Gebäudeanordnung, Block- oder Pavillonbau) und Vorbilder, darunter das von Alvar Aalto 1929-33 errichtete Sanatorium in Paimio, das Sanatorium Zonnestraal in Hilversum (1926-28) oder das Söderspital in Stockholm (1937-44).
Nach intensiver Auseinandersetzung mit den Funktionsabläufen des Kantonsspitals, Konzepten und Vorbildern entschied sich die AKZ für die Anordnung der Spezialkliniken und Funktionsbereiche als verbundene Block- und Pavillonbauten, die vertikale Stapelung gleicher Funktionen innerhalb der Bauten, die Minimierung stark frequentierter Wege von Personal und Patienten sowie die Schaffung einer den Heilungsprozess fördernden hellen, ruhigen und wohnlichen Atmosphäre durch Gliederung, Materialwahl und Orientierung der Krankenzimmer auf den Park hin. Zudem musste das neue Spital am bisherigen Standort sorgfältig in den städtebaulichen Kontext integriert werden und etappenweise so um die Altbauten herum entstehen, dass der Betrieb jederzeit gewährleistet werden konnte. Aus diesen Erfordernissen wurde eine strahlenförmig aufgebaute Anlage entwickelt, mit der Polyklinik parallel zur Rämistrasse, im rechten Winkel daran anschliessenden L-förmig um das alte Spital herumgeführten Bettentrakten und einer weiteren vom Gelenkpunkt hangwärts führenden Achse mit Einlieferungs-, Operations-, Pathologie-, Küchen- und Hörsaaltrakt. Auf diese Weise blieb auch der Spitalpark mit seinem alten Baumbestand erhalten.
1942-51 wurde das damals grösste, auch der Arbeitsbeschaffung dienende Bauprojekt der Schweiz, trotz der in den ersten Jahren kriegsbedingten Materialknappheit für fast 100 Mio. Franken realisiert. Das alte Kantonsspital wurde 1951 mit Ausnahme des Anatomiegebäudes (Gloriastrasse 19) abgerissen. Die individuell gestalteten Bauten der Anlage werden durch die durchgängige Sichtbarmachung der Skelettkonstruktion und die Verwendung gleicher Materialien für die gleichen Funktionen als Einheit erfahrbar. Die Traufkante der direkt der ETH gegenüberliegenden, in den Formen der gemässigten Moderne gestalteten Polyklinik nimmt die Höhe der Strassenfront der Hochschule auf und schirmt vermittelnd den hochhausartigen Bettentrakt gegen die Rämistrasse ab. Über dem weiten, auch an der Fassade ablesbaren Stützenraster der Eingangshalle erhebt sich der kleinteilige Fensterraster der drei oberen Geschosse, während das zurückversetzte Dachgeschoss hinter der Kante der Dachterrasse verschwindet. Die Mittelachse der unprätentiös wirkenden Fassade wird durch das grosse Vordach des Haupteingangs und die Balkone darüber akzentuiert. Wiederholt werden das Balkonmotiv und die Fassadengliederung der Obergeschosse an der Front der niedrigeren, durch ein vorspringendes Treppenhaus abgetrennten Kantonsapotheke.
Den grosszügigen, von Gustav Ammann (1885-1955) gestalteten Spitalpark rahmen die bis zu neun Geschosse hohen Bettenhäuser mit teilweise gedeckter Dachterrasse. Mittelgänge erschliessen die zum Park gelegenen Krankenzimmer und die rückwärtigen Diensträume des Personals. Die langen, durch den Fensterraster bestimmten Fassaden werden auf der Parkseite durch niedrigere Vorbauten mit Aufenthaltsbereichen für stationäre Patienten (Loggien, Balkone, Dachterrasse mit Pilzdach) aufgelockert, auf der Rückseite durch die vorspringenden, die Traufkante überragenden, Treppenhäuser.
Aussen wie innen werden die grossen Volumen und Flächen aufgebrochen und durch die variantenreiche Verwendung moderner und traditioneller Materialien, wie Beton, Kunststein, Marmor, Verputz, Terracotta, Holz und Glas in ornamental wirkender Weise strukturiert. Die technische Ausstattung sowie das ganze Mobiliar wurde von der AKZ in enger Zusammenarbeit mit dem medizinischen Personal entwickelt und die Anbringung von Skulpturen und Malereien gegen Sparforderungen durchgesetzt.
Für das Personal plante die AKZ 1951 ein Hochhaus auf der Platte, das allerdings nicht mehr von ihr ausgeführt wurde. Die seit den 1960-er Jahren im Zuge der Erweiterung des Spitals vorgenommenen Neubauten, Verdichtungen und Aufstockungen haben die Struktur der Anlage und die sorgfältige Gliederung der verschiedenen Baukörper zunehmend verwischt und ein amorphes Konglomerat von Bauten entstehen lassen. O.C.
Die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts über das Gemeindegebiet Zürichs hinausgreifende Urbanisierung, die damit wachsenden Distanzen innerhalb des Siedlungsraums und die zunehmende Bevölkerungsdichte führten zu neuen Anforderungen an die Planung, die Organisation und die Infrastruktur des städtischen Lebens. Mit der ersten Eingemeindung der stadtnahen Vorortsgemeinden, darunter auch Hottingen, 1893 wurde eine wichtige Voraussetzung für den zügigen Aufbau eines Tramnetzes geschaffen. Damit entstand eine neue Bauaufgabe: die Tramwartehalle an Verkehrsknotenpunkten, die als Multifunktionsbau bieten sollte, was Passanten beim Warten brauchen und was die Hygiene des öffentlichen Raums erfordert: Wetterschutz, Sitzgelegenheiten, Zeitungs- und Imbissstand, Uhr sowie Toiletten. Mit ihren Material- und Wärterräumen diente sie auch dem Unterhalt des Verkehrsnetzes.
Anlässlich der im Vorjahr erfolgten Eröffnung der Tramverbindung zwischen Central und Römerhof erbaute Stadtbaumeister Friedrich Fissler (1875-1964) 1911 im Rahmen der Neugestaltung des Platzes an Stelle eines bescheidenen Toilettenhäuschens die neuklassizistische Tramwartehalle am Heimplatz mit Aborten und Kiosk. Der kompakte Kleinbau unter einem leicht geschweiften Walmdach mit Dachreiter und Zwerchgiebel mit Uhr öffnet sich in einer Vorhalle mit toskanischen Säulen gegen die Rämistrasse. O.C.
In St. Gallen als Sohn eines „Warenagenten“ in bescheidenen wirtschaftlichen Verhältnissen geboren, besuchte Otto Schlaginhaufen 1894-97 die Kantonsschule in Zürich, wo er auch das Studium am 1899 neu gegründeten, ersten schweizerischen Institut für Anthropologie bei Professor Rudolf Martin (1864-1925) aufnahm. Martin, an der Ecole d’Anthropologie in Paris beim Chirurgen und Anatomen Paul Broca (1824-80) ausgebildet, verstand die Anthropologie als naturwissenschaftliche, auf Messungen beruhende Disziplin mit der Aufgabe, im Sinne Darwins die Stammesgeschichte des Menschen im Gesamtzusammenhang der Naturgeschichte zu erforschen. Dabei ging er davon aus, dass sich durch Vererbung verschiedene Rassen ausgebildet hätten, deren psychische und geistige Eigenschaften mit bestimmten körperlichen Merkmalen, wie z.B. Schädelform und Hirnvolumen, Hand-, Fuss- und Beckenform, korrelierten. In seiner Dissertation, einer vergleichenden Studie über Fuss- und Handabdrücke von 51 „westafrikanischen Negern“, die 1903 im Zürcher Panoptikum zu sehen waren, 82 Europäern, einigen Asiaten und Affen kam Schlaginhaufen zum Schluss, dass die „westafrikanischen Neger“ in der menschlichen Stammesgeschichte eine Mittelstellung zwischen Affen und Menschen einnähmen. Als Assistent am Anthropologischen Institut widmete er sich vor allem der Verbesserung der Instrumente für Schädelvermessungen, bis er 1905 eine temporäre Anstellung am Völkerkundemuseum in Berlin erhielt. Dessen Direktor Felix von Luschan (1854-1924) übertrug ihm die Inventarisierung der Schädelsammlung des Pathologen und Anthropologen Rudolf Virchow (1821-1902) und führte ihn in den Kreis damals führender deutscher Rassenhygieniker, wie etwa Ernst Haeckel (1834-1919) und Alfred Ploetz (1860-1940), ein.
1907 warb ihn Felix von Luschan für die „Deutsche Marine-Expedition“ nach Neu-Mecklenburg und im Bismarck-Archipel vom Anthropologisch-ethnografischen Museum in Dresden ab. Die Forschungsexpedition sollte von der westlichen Zivilisation noch weitgehend unberührte melanesische Bevölkerungsgruppen anthropologisch untersuchen und Zeugnisse ihrer Kultur für das Berliner und Dresdner Museum sammeln, bevor sie als Folge von Kolonisation und Zivilisierung untergehen würde.
Aufgrund ihrer körperlichen Eigenschaften und ihrer Kultur galten die Melansier als noch primitiver als die Schwarzen Afrikas und daher als geeignet für einen Blick in die Frühzeit der menschlichen Species. Als Mitglied des zunächst vierköpfigen Forscherteams verbrachte Schlaginhaufen zwei Jahre im südlichen Teil Neu-Mecklenburgs – überwiegend in Muliama – und auf Papua, führte an 1200 Einheimischen Vermessungen durch, notierte Beobachtungen zu Sprache, Kultur, Natur und Geografie, zeichnete, fotografierte, machte Tonaufnahmen mit dem Phonographen, erwarb 420 Schädel Verstorbener und sammelte Hunderte von Objekten.
Nach seiner Rückkehr präsentierte das Dresdner Museum 1910 das Material in einer Ausstellung. Bereits im folgenden Jahr trat Schlaginhaufen die Nachfolge seines aus gesundheitlichen Gründen zurückgetretenen Lehrers Rudolf Martin als Professor für Anthropologie an der Universität Zürich an.
Ganz im Trend der damaligen rassehygienischen und eugenischen Debatte, die die natürliche Selektion durch Zivilisation und Humanität eingeschränkt und dadurch den Fortbestand des Volkes durch Dekadenz (tiefe Geburtenrate), Entwurzelung (Alkoholismus) und Verfremdung (sinkende Qualität des Erbguts) gefährdet sah, positionierte er sich als Sozialanthropologe: Er forderte eine systematische Vererbungsforschung und rassenkundliche Untersuchung der Schweizer Bevölkerung als wissenschaftliche Grundlage eugenischer Massnahmen. Darin bestätigt sah er sich durch die negative Selektionswirkung des 1. Weltkriegs, der die Kampffähigen dezimiere, während die Untauglichen zuhause überlebten.
Schlaginhaufens Anliegen teilte der Ingenieur und Industrielle Julius Klaus (1849-1920) aus Uster, der sein Vermögen testamentarisch der „Julius Klaus-Stiftung für Vererbungsforschung, Sozialanthropologie und Rassenhygiene“ vermachte und Otto Schlaginhaufen als Präsident auf Lebenszeit einsetzte. Die Stiftung sollte die Forschung auf dem Gebiet der Vererbungslehre und darauf aufbauend konkrete rassenhygienische Massnahmen fördern. In den folgenden drei Jahrzehnten konnte Schlaginhaufen nicht zuletzt dank der beträchtlichen Mittel der Stiftung sein Universitätsinstitut zum Zentrum der schweizerischen sozialanthropologischen und eugenischen Forschung machen. So finanzierte die Stiftung z.B. seine 1927-33 an 35'400 Schweizer Rekruten durchgeführten anthropologischen Untersuchungen, deren Auswertung ihn zum Schluss führten, dass die Schweizer keine eigene Rasse, sondern ein rassisch vielfältig gemischtes Volk seien.
Er war zudem in der nationalen und internationalen Community der Rassenhygieniker bestens vernetzt: 1920 war er einer der Mitbegründer der „Schweizerischen Gesellschaft für Anthropologie“ und der populärwissenschaftlichen, sozialhygienische und eugenische Forderungen vertretenden Zeitschrift „Natur und Mensch“, 1923 wurde er Mitglied der „Deutschen Gesellschaft für Vererbungswissenschaft“, 1926 der „Deutschen Gesellschaft für Blutgruppenforschung“, seit 1927 engagierte er sich in der „International Federation of Eugenic Organisations“. Nach 1933 war die Kooperation deutscher Anthropologen mit den Nationalsozialisten für Schlaginhaufen kein Grund, sich von ihnen zu distanzieren oder von ihnen dominierte Tagungen zu meiden. Konsequent gab er sich unpolitisch und beanspruchte den Status reiner Wissenschaftlichkeit. Gleichzeitig unterstützte die Julius Klaus-Stiftung etwa die Propagierung der Erbverantwortung Heiratswilliger durch die Zentralstelle für Ehe- und Sexualberatung oder die Vererbungsforschungen Eugen Bleulers (1857-1939), der die von seinem Vorgänger Auguste Forel (1848-1931) 1886 erstmals in Europa an der Psychiatrischen Universitätsklinik Burghölzli durchgeführte, seit 1900 in der Schweizer Psychiatrie verbreitete Sterilisierung von Geisteskranken aus sozialen und eugenischen Gründen grosszügig praktizierte. Die Schweizerische Landesausstellung 1939 bot Schlaginhaufen die Gelegenheit, die Ergebnisse seiner Rekrutenstudie zu präsentieren, die ganz zum Volkskonzept der Geistigen Landesverteidigung passten.
Nach dem 2. Weltkrieg war das noch aus dem 19. Jahrhundert stammende anthropologische Rassekonzept durch die planmässige NS-Ausrottungspolitik diskreditiert und durch die aufkommende medizinische Genetik und die Molekularbiologie methodisch überholt, doch Schlaginhaufen und die Julius Klaus-Stiftung sahen sich weder zu einer klärenden Stellungnahme noch zu Veränderungen ihrer Arbeitsfelder und -methoden veranlasst. Erst mit Schlaginhaufens Emeritierung 1951 kam es zu einer Neuorientierung des Instituts für Anthropologie, die sich auch in der Ausquartierung des Büros der Julius Klaus-Stiftung und der Schädelsammlung des Professors an die Gemeindestrasse 5 manifestierte. Räumlich und personell abgeschnitten vom aktuellen Forschungsbetrieb verloren die Stiftung und ihr Präsident bis zu dessen Rücktritt 1968 immer mehr ihre einstige Bedeutung. Danach fand die Stiftung wieder den Anschluss an die Zeit. 1971 wurden die Statuten überarbeitet und die Stiftung in „Julius Klaus-Stiftung für Genetik und Sozialanthropologie“ umbenannt.O.C.
Der repräsentative Bau der ehemaligen Augenklinik zwischen ETH und Universität ist Ausdruck des Erstarkens und der Auffächerung der universitären Medizin in Spezialdisziplinen. Mit der Entstehung der modernen Klinik im 19. Jahrhundert wurden Spitäler nicht mehr primär auf die Versorgung und Verwahrung physisch oder psychisch kranker Menschen, sondern auf die Behandlung heilbarer Kranker ausgerichtet. Das 1842 eröffnete Zürcher Kantonsspital beherbergte zwei Universitätskliniken: die Innere Medizin und die Chirurgie, der auch die Augenheilkunde zugeordnet war. Die grossen Fortschritte in der Ophthalmologie und die Spezialisierung einzelner Ärzte auf dieses Gebiet, führten in verschiedenen europäischen Ländern zur Gründung privater Augenkliniken, da die Augenärzte mit ihrer Forderung nach eigenen Lehrstühlen und eigenständigen Universitätskliniken vor 1850 nicht durchdrangen. Die Chirurgen fürchteten die neue Konkurrenz und die Regierungen die Kosten. In Zürich bewilligte der Regierungsrat nach mehrjährigem Ringen 1862 einen Lehrstuhl für Augenheilkunde mit zugehöriger Klinik in den Gebäuden des Universitätsspitals und berief den Zürcher Augenarzt Johann Friedrich Horner, der seit 1856 eine ausserordentlich erfolgreiche Privatklinik betrieben hatte. Erst 1889 konnte sich Horners Nachfolger Otto Haab mit der Forderung nach einem selbständigen Klinikbau durchsetzen, mit dessen Planung Kantonsbaumeister Otto Weber, ein Schüler Gottfried Sempers, beauftragt wurde. Angesichts des grossen Renommees der Zürcher Augenheilkunde und der unmittelbaren Nachbarschaft des Neubaus zu Sempers monumentalem Hochschulgebäude konnte Weber die Verantwortlichen von der repräsentativen Gestaltung des Klinikbaus als zweiflügligen, historistischen Palazzo mit vorgeschobenem, erhöhtem, mit korinthischen Säulen geschmücktem Mittelrisalit überzeugen.
Die teuern Sandsteinfassaden des 1892-96 ausgeführten Baus umschlossen eine an ausländischen Vorbildern orientierte, moderne, zweckmässige Spitalinfrastruktur: Wirtschaftsräume und Stallungen für die Versuchskaninchen im Kellergeschoss; repräsentatives Vestibül, Räume für Forschung, Lehre und Verwaltung sowie Warte- und Untersuchungszimmer im Erdgeschoss; stationärer Bereich für 57 Erwachsene und 11 Kinder mit zwei Operationssälen, Krankenzimmern und grosszügigen Korridoren als Aufenthaltsbereich in den Obergeschossen.
Die Klinik war vollständig elektrifiziert, verfügte über Warmwasser in den Zimmern, nach Geschlechtern getrennte sanitäre Anlagen und eine an hygienischen Kriterien orientierte Ausstattung. Die Patienten waren in den Betrieb der Klinik eingebunden und mussten, sofern es ihr Zustand erlaubte, Mitpatienten betreuen und bei der Bewirtschaftung und Reinigung mithelfen.
1953 zogen das Kunsthistorische Institut und die Archäologische Sammlung in das Gebäude der Augenklinik ein, nachdem diese in moderne Räume im neugebauten Kantonsspital umgezogen war. O.C.