Was haben ein Dopingskandal beim Wunder von Bern, eine Hölle in Jena, die Apotheke eines Onkels, die Judenpogrome von 1905, ein Nobelpreis, das MNG, 30 Hormone der Nebennierenrinde und Farne miteinander zu tun?
Das ist ein Text über Tadeus Reichstein. Wer?
Tadeus Reichstein war 1912-16 Schüler der Industrieschule (heute MNG Rämibühl). Er war ein bedeutender, 1914 eingebürgerter Schweizer Chemiker, der erst mit den Nobelpreisträgern Hermann Staudinger (1881-1965) und Leopold Ružička (1887-1976) an der ETH und später als Leiter des Pharmazeutischen (ab 1938) wie auch des Organisch-Chemischen Instituts der Universität Basel (ab 1960) bedeutende Arbeit auf dem Gebiet der Naturstoffe geleistet hat, wofür er 1950 selber mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet worden ist.
An dieser Stelle dürfte man jetzt eine Darstellung seines Werdegangs erwarten – das Fliehen vor antisemitischer Gewalt in Kiew und das Heimatfinden in Zürich ab 1906, eine Auflistung der akademischen Stationen, abgeschlossen von einer Würdigung seines Schaffens. Ich schreibe «dürfte», denn wie soll man einem so ereignisreichen Leben mit einem so kurzen Text gerecht werden. Allein für eine angemessene Darstellung seiner Synthese von Vitamin C im Jahr 1933 oder seiner umfassenden Erforschung der Steroide wäre eine Doppelseite kaum ausreichend. Und da wären die weitreichenden medizinischen (Bsp.: Cortison), industriellen (Biotechnologische Grossproduktion) und gesellschaftlichen (Dopingskandal 1954 und Vitamanie) Folgen noch nicht einmal mit drin.
Ich möchte den Fokus stattdessen auf einen Begriff legen, welcher sich wie ein roter Faden durch die autobiographischen Kommentare Reichsteins zieht – das Glücklichsein. Als Kind sei er nirgendwo so glücklich gewesen, wie wenn er in der Apotheke seines Onkels dabei helfen durfte, Pillen zu drehen oder Sirupe zu kochen. Reichstein war sich sicher, dass es diese Beschäftigung war, die in ihm diese unbändige naturwissenschaftliche Neugier entfachte, die ihn ein ganzes Leben lang treu begleiten sollte. Sein Augenmerk lag nicht auf dem schrecklichen Anblick der Pogromopfer oder seiner eigenen Hölle von Jena, wo der schmächtige Tadeus als Internatsschüler unter den körperlichen Züchtigungen der Lehrer litt, sondern auf der glücklichen Kindheit, die folgte, als er mit seiner Familie in Zürich wiedervereint war. Er beklagte nicht, dass er trotz eines ausgezeichneten Diploms in chemischen Ingenieurwissenschaften von der ETH erst nur eine Stelle in einer kleinen Taschenlampen-Firma in Rorschach finden konnte. Vielmehr betonte er, dass dies eine der glücklichsten Zeiten seines Lebens gewesen sei, da er mit dem Geld seine durch den Weltkrieg finanziell in Nöte geratene Familie entlasten konnte.
Es ist bezeichnend, dass dieser so vielseitig am Leben interessierte Mensch auch die Zeit nach seiner Emeritierung dazu nutzte, seiner Neugier zu frönen. Reichsteins Garten im Bruderholz war weithin als botanisches Paradies bekannt. Und wie es sich für einen wahren Forschergeist gehört, konnte es nicht ausschliesslich beim Gärtnern bleiben. Von seiner Pensionierung 1967 bis zu seinem Tod 1997 im Alter von 99 Jahren veröffentlichte Reichstein noch 100 Arbeiten zur Systematik, Chemotaxonomie, Cytologie und Micromorphologie der Farne.
Fazit: Ist sich ein Mensch seiner selbst bewusst – seiner Fähigkeiten, seiner Schwächen, seiner Leidenschaften – vermögen ihn noch so viele Umwege und Hindernisse nicht von einem glücklichen und erfüllten Leben abzuhalten. R.O.