Gottfried Keller (1819–1890) ist einer der bekanntesten deutschsprachigen Schriftsteller und der berühmteste ehemalige MNG-Schüler.
Genaugenommen besuchte Gottfried Keller von 1833 bis 1834 die gerade neu gegründete «Industrieschule», die 1928 zur «Oberrealschule» und 1974 zum «MNG Rämibühl» wurde. Das Schulhaus befand sich zu Kellers Zeit noch nicht auf dem Rämibühl-Areal, sondern beim Grossmünster. Heute steht dort das Theologische Seminar der Uni Zürich.
Keller wurde nach nur etwas mehr als einem Jahr von der Schule gewiesen, weil er sich an einer Randale gegen einen unbeliebten Lehrer beteiligt hatte. Die Schüler (damals nur Knaben) hatten sich zum Haus des Lehrers begeben, um unrechtmässig eingezogene Mathehefte zurückzuverlangen. Dabei kam es zu einer Schlägerei mit den Söhnen des Lehrers, das Haus wurde mit Steinen und Holzstücken beworfen, Scheiben wurden eingeschlagen. Keller wurde – zu Unrecht – als Anstifter angesehen und als Einziger hart bestraft. Man geht heute davon aus, dass der Schulverweis mit dem Scheidungsprozess von Kellers Mutter zusammenhängt. Die hohen Herren der Stadt wollten an ihr ein Exempel statuieren.
Für den 14-jährigen Keller bedeutete der Schulverweis, dass er aus der bürgerlichen Welt ausgeschlossen war. Seine Mutter konnte sich keine Privatschule leisten. Er versuchte sich zunächst als Kunstmaler, hatte jedoch wenig Erfolg, lebte jahrelang in ärmlichen Verhältnissen und litt zeitweise gar Hunger.
Gottfried Keller in seinem autobiographischen Roman Der grüne Heinrich (2. Fassung, 1. Band, 16. Kapitel):
«Ich wurde entlassen und ging etwas bewegt, doch gemächlich nach Hause; das Ganze schien mir nicht sehr würdig zu verlaufen. Zwar fühlte ich eine tiefe Reue, aber nur gegen den mißhandelten Lehrer. Zu Hause erzählte ich der Mutter den ganzen Vorgang, worauf sie mir eben eine Strafrede halten wollte, als ein Amtsdiener hereintrat mit einem großen Briefe. Dieser enthielt die Nachricht, daß ich von Stund an und für immer von dem Besuche der Schule ausgeschlossen sei. Das Gefühl des Unwillens und erlittener Ungerechtigkeit, welches sich sogleich in mir äußerte, war so überzeugend, daß meine Mutter nicht länger bei meiner Schuld verweilte, sondern sich ihren eigenen bekümmerten Gefühlen überließ, da der große und allmächtige Staat einer hilflosen Witwe das einzige Kind vor die Türe gestellt hatte mit den Worten Es ist nicht zu brauchen!»
Im selben Roman heisst es zusammenfassend:
«Ein Kind von der allgemeinen Erziehung ausschließen heißt nichts anderes, als seine innere Entwicklung, sein geistiges Leben köpfen.»
Auch das Rämibühl-Areal selbst war für Gottfried Keller wichtig. Hier stand seit 1843 die «Villa Sonneck» des hessischen Emigranten August Adolf Ludwig Follen, der Kellers schriftstellerische Laufbahn entscheidend förderte. Zugespitzt könnte man sagen: Ohne Follen und den Rämihügel wäre aus Keller vielleicht nie ein Schriftsteller geworden.
Die «Villa Sonneck» an der Rämistrasse 64 (heute: 68) wurde 1897 im Heimatstil stark umgebaut und in «Villa Tanneck» umbenannt. Diese steht heute noch, in ihr ist gegenwärtig das Klassisch-philologische Seminar der Uni Zürich untergebracht.
Ganz rechts die Villa Sonneck (mit Turm), das zweite Gebäude von rechts ist das «Obere Sonnenbühl». Im Vordergrund die Rämistrasse.
Als der 23-jährige Keller Ende 1842 erfolg- und völlig mittellos aus München nach Zürich zurückgekehrt war, wollte er zunächst immer noch Maler werden. Die Lektüre der politischen Vormärz-Lyrik eines Anastasius Grün und Georg Herwegh ergriff ihn jedoch nach eigener Aussage «wie ein Trompetenstoß» und inspirierte ihn zu eigenen Gedichten. Diese zeigte er zunächst Julius Froebel, einem seiner früheren Lehrer an der Industrieschule, der ihn dann mit Follen bekannt machte. Mit Unterstützung der beiden konnte Keller erste Gedichte in Zeitschriften und 1846 seinen ersten Gedichtband veröffentlichen. In den 1840er-Jahren hielten sich viele vor Repression und Zensur geflüchtete liberale Schriftsteller und Gelehrte in Zürich auf. Keller hatte Zugang zu dieser Emigrantenszene, unter anderem dank Follen.
Keller in einer „biographischen Skizze“ vom 22. März 1847:
«Als ich einen ziemlichen Pack Reimereien beieinander hatte, überschickte ich sie Professor Follen und bat ihn mit angstvoller Erwartung um Entscheidung über Sein oder Nichtsein dieser Versuche […], denn er ist zu seiner grossen Unbequemlichkeit das Orakel der poetischen Anfänger in der Schweiz geworden»
Ein zwischen Juli und August 1843 geführtes Tagebuch gibt Auskunft über diese für Keller schwierige Zeit, in der er nach der ihm zukommenden Aufgabe in der bürgerlichen Gesellschaft suchte und sehr unsicher über seine schriftstellerische Begabung war.
10. August
Gedichte ins Reine geschrieben, weidlich geraucht und grosse Unruhe und Unbehaglichkeit empfunden.
Die Sache ergreift mich mit allen Fibern. Ob sich wohl meine äusserlichen und ökonomischen Hundstage in innerliche, geistige Gewittertage verwandeln?
11. August
Nichts getan.
Ein deutscher Vormärz-Emigrant war auch Georg Büchner, der während seines Zürcher Exils 1836/37 in unmittelbarer Nachbarschaft zu Keller in der Altstadt gewohnt hatte. Keller wohnte damals im „Haus zur Sichel“ am Rindermarkt 9. Gekannt haben sich die beiden wohl nicht. Die Werke Büchners hat Keller erst um 1880 gelesen; er reagierte darauf jedoch mit Ablehnung.
Fast alle wichtigen Schauplätze von Gottfried Kellers Leben und Wirken befinden sich in Schrittdistanz zum Rämibühl-Areal: zum Beispiel das Geburtshaus («Haus zum goldenen Winkel», Neumarkt 27), das Haus seiner Kindheit («Haus zur Sichel», Rindermarkt 9), das Wohnhaus des Staatschreibers (Kirchgasse 33), das Keller von 1861-75 bewohnte, und das Haus «Zum Thaleck» (Zeltweg 27), in dem er von 1882 bis zu seinem Tod lebte.
Auf der Webseite https://www.gottfriedkellerzuerich.ch/ kann man einen virtuellen Rundgang durch Kellers Zürich machen und sich über die diese und weitere Häuser und Orte kundig informieren. Abbildungen von Kellers Häusern finden sich auf der Seite der Gottfried Keller-Gesellschaft Zürich: https://gottfriedkeller-gesellschaft.ch/gottfried-keller/zuercher-wohnorte/
Die Kantonsschule Hottingen an der Minervastrasse 14 hiess früher Gottfried-Keller-Schule. Der Name wurde wohl gewählt, weil Keller im Verlauf seines Lebens gleich drei Wohnungen in unmittelbarer Nähe bewohnt hatte (Minervastr. 10, Gemeindestr. 27 [damals: Gemeindegasse 25] und im «Haus zum Thaleck», Zeltweg 27). Die Kanti Hottingen war jedoch nie Teil der Industrieschule, die Keller besucht hat, sie ist vielmehr aus der Handelsschule der früheren Höheren Töchterschule (heute: Kantonsschule Hohe Promenade) hervorgegangen. C.V.