Alumni und Unterrichtende der Kantonsschulen Rämibühl

Otto Schlaginhaufen (1879-1973), Sozialanthropologe

Submitted by ottavio.clavuot on Sun, 12/05/2021 - 11:06

In St. Gallen als Sohn eines „Warenagenten“ in bescheidenen wirtschaftlichen Verhältnissen geboren, besuchte Otto Schlaginhaufen 1894-97 die Kantonsschule in Zürich, wo er auch das Studium am 1899 neu gegründeten, ersten schweizerischen Institut für Anthropologie bei Professor Rudolf Martin (1864-1925) aufnahm. Martin, an der Ecole d’Anthropologie in Paris beim Chirurgen und Anatomen Paul Broca (1824-80) ausgebildet, verstand die Anthropologie als naturwissenschaftliche, auf Messungen beruhende Disziplin mit der Aufgabe, im Sinne Darwins die Stammesgeschichte des Menschen im Gesamtzusammenhang der Naturgeschichte zu erforschen. Dabei ging er davon aus, dass sich durch Vererbung verschiedene Rassen ausgebildet hätten, deren psychische und geistige Eigenschaften mit bestimmten körperlichen Merkmalen, wie z.B. Schädelform und Hirnvolumen, Hand-, Fuss- und Beckenform, korrelierten. In seiner Dissertation, einer vergleichenden Studie über Fuss- und Handabdrücke von 51 „westafrikanischen Negern“, die 1903 im Zürcher Panoptikum zu sehen waren, 82 Europäern, einigen Asiaten und Affen kam Schlaginhaufen zum Schluss, dass die „westafrikanischen Neger“ in der menschlichen Stammesgeschichte eine Mittelstellung zwischen Affen und Menschen einnähmen. Als Assistent am Anthropologischen Institut widmete er sich vor allem der Verbesserung der Instrumente für Schädelvermessungen, bis er 1905 eine temporäre Anstellung am Völkerkundemuseum in Berlin erhielt. Dessen Direktor Felix von Luschan (1854-1924) übertrug ihm die Inventarisierung der Schädelsammlung des Pathologen und Anthropologen Rudolf Virchow (1821-1902) und führte ihn in den Kreis damals führender deutscher Rassenhygieniker, wie etwa Ernst Haeckel (1834-1919) und Alfred Ploetz (1860-1940), ein.

Deutsch Guinea 1914
Karte Deutsch-Guineas 1914. Deutsches Koloniallexikon, Leipzig 1920.

1907 warb ihn Felix von Luschan für die „Deutsche Marine-Expedition“ nach Neu-Mecklenburg und im Bismarck-Archipel vom Anthropologisch-ethnografischen Museum in Dresden ab. Die Forschungsexpedition sollte von der westlichen Zivilisation noch weitgehend unberührte melanesische Bevölkerungsgruppen anthropologisch untersuchen und Zeugnisse ihrer Kultur für das Berliner und Dresdner Museum sammeln, bevor sie als Folge von Kolonisation und Zivilisierung untergehen würde.

Gruppenportrait (Forschungsreise durch Deutsch-Guinea 1909)
Otto Schlaginhaufen in Paup mit Eingeborenen während der Forschungsreise durch Deutsch-Guinea, 1909.

Aufgrund ihrer körperlichen Eigenschaften und ihrer Kultur galten die Melansier als noch primitiver als die Schwarzen Afrikas und daher als geeignet für einen Blick in die Frühzeit der menschlichen Species. Als Mitglied des zunächst vierköpfigen Forscherteams verbrachte Schlaginhaufen zwei Jahre im südlichen Teil Neu-Mecklenburgs –  überwiegend in Muliama – und auf Papua, führte an 1200 Einheimischen Vermessungen durch, notierte Beobachtungen zu Sprache, Kultur, Natur und Geografie, zeichnete, fotografierte, machte Tonaufnahmen mit dem Phonographen, erwarb 420 Schädel Verstorbener und sammelte Hunderte von Objekten.

Audio file
Aus den Aufzeichnungen Otto Schlaginhaufens in Deutsch-Guinea 1907/08.

Nach seiner Rückkehr präsentierte das Dresdner Museum 1910 das Material in einer Ausstellung. Bereits im folgenden Jahr trat Schlaginhaufen die Nachfolge seines aus gesundheitlichen Gründen zurückgetretenen Lehrers Rudolf Martin als Professor für Anthropologie an der Universität Zürich an.

Otto Schlaginhaufen
Otto Schlaginhaufen. 1914.

Ganz im Trend der damaligen rassehygienischen und eugenischen Debatte, die die natürliche Selektion durch Zivilisation und Humanität eingeschränkt und dadurch den Fortbestand des Volkes durch Dekadenz (tiefe Geburtenrate), Entwurzelung (Alkoholismus) und Verfremdung (sinkende Qualität des Erbguts) gefährdet sah, positionierte er sich als Sozialanthropologe: Er forderte eine systematische Vererbungsforschung und rassenkundliche Untersuchung der Schweizer Bevölkerung als wissenschaftliche Grundlage eugenischer Massnahmen. Darin bestätigt sah er sich durch die negative Selektionswirkung des 1. Weltkriegs, der die Kampffähigen dezimiere, während die Untauglichen zuhause überlebten.

Audio file
Vortrag Otto Schlaginhaufens an der Jahresversammlung des Zürcher Hochschulvereins in Horgen über Sozialanthropologie und Krieg im Herbst 1915.
Anthropologisches Institut 1936
Kurslaboratorium des Anthropologischen Instituts der Universität im Stockargut (Künstlergasse 15), 1936.

Schlaginhaufens Anliegen teilte der Ingenieur und Industrielle Julius Klaus (1849-1920) aus Uster, der sein Vermögen testamentarisch der „Julius Klaus-Stiftung für Vererbungsforschung, Sozialanthropologie und Rassenhygiene“ vermachte und Otto Schlaginhaufen als Präsident auf Lebenszeit einsetzte. Die Stiftung sollte die Forschung auf dem Gebiet der Vererbungslehre und darauf aufbauend konkrete rassenhygienische Massnahmen fördern. In den folgenden drei Jahrzehnten konnte Schlaginhaufen nicht zuletzt dank der beträchtlichen Mittel der Stiftung sein Universitätsinstitut zum Zentrum der schweizerischen sozialanthropologischen und eugenischen Forschung machen. So finanzierte die Stiftung z.B. seine 1927-33 an 35'400 Schweizer Rekruten durchgeführten anthropologischen Untersuchungen, deren Auswertung ihn zum Schluss führten, dass die Schweizer keine eigene Rasse, sondern ein rassisch vielfältig gemischtes Volk seien.

Rekrutenvermessung
Rekrutenvermessung im Rahmen von Schlaginhaufens sozialanthropologischen Projekt auf der Suche nach einer alpinen Rasse, um 1930.

Er war zudem in der nationalen und internationalen Community der Rassenhygieniker bestens vernetzt: 1920 war er einer der Mitbegründer der „Schweizerischen Gesellschaft für Anthropologie“ und der populärwissenschaftlichen, sozialhygienische und eugenische Forderungen vertretenden Zeitschrift „Natur und Mensch“, 1923 wurde er Mitglied der „Deutschen Gesellschaft für Vererbungswissenschaft“, 1926 der „Deutschen Gesellschaft für Blutgruppenforschung“, seit 1927 engagierte er sich in der „International Federation of Eugenic Organisations“. Nach 1933 war die Kooperation deutscher Anthropologen mit den Nationalsozialisten für Schlaginhaufen kein Grund, sich von ihnen zu distanzieren oder von ihnen dominierte Tagungen zu meiden. Konsequent gab er sich unpolitisch und beanspruchte den Status reiner Wissenschaftlichkeit. Gleichzeitig unterstützte die Julius Klaus-Stiftung etwa die Propagierung der Erbverantwortung Heiratswilliger durch die Zentralstelle für Ehe- und Sexualberatung oder die Vererbungsforschungen Eugen Bleulers (1857-1939), der die von seinem Vorgänger Auguste Forel (1848-1931) 1886 erstmals in Europa an der Psychiatrischen Universitätsklinik Burghölzli durchgeführte, seit 1900 in der Schweizer Psychiatrie verbreitete Sterilisierung von Geisteskranken aus sozialen und eugenischen Gründen grosszügig praktizierte. Die Schweizerische Landesausstellung 1939 bot Schlaginhaufen die Gelegenheit, die Ergebnisse seiner Rekrutenstudie zu präsentieren, die ganz zum Volkskonzept der Geistigen Landesverteidigung passten.

Landi Schweizer Volk
Das Schweizer Volk in Bildern an der Landi 1939. Die Julius Klaus-Stiftung unterstützte die Herstellung der Fotos verschiedener Schweizer Rassetypen, der "charakteristischen Schweizerköpfe", für die Abteilung "Volk und Heimat" an der Landesausstellung finanziell.

Nach dem 2. Weltkrieg war das noch aus dem 19. Jahrhundert stammende anthropologische Rassekonzept durch die planmässige NS-Ausrottungspolitik diskreditiert und durch die aufkommende medizinische Genetik und die Molekularbiologie methodisch überholt, doch Schlaginhaufen und die Julius Klaus-Stiftung sahen sich weder zu einer klärenden Stellungnahme noch zu Veränderungen ihrer Arbeitsfelder und -methoden veranlasst. Erst mit Schlaginhaufens Emeritierung 1951 kam es zu einer Neuorientierung des Instituts für Anthropologie, die sich auch in der Ausquartierung des Büros der Julius Klaus-Stiftung und der Schädelsammlung des Professors an die Gemeindestrasse 5 manifestierte. Räumlich und personell abgeschnitten vom aktuellen Forschungsbetrieb verloren die Stiftung und ihr Präsident bis zu dessen Rücktritt 1968 immer mehr ihre einstige Bedeutung. Danach fand die Stiftung wieder den Anschluss an die Zeit. 1971 wurden die Statuten überarbeitet und die Stiftung in „Julius Klaus-Stiftung für Genetik und Sozialanthropologie“ umbenannt. O.C.

Elias Canetti (1905-1994), Schriftsteller

Submitted by christian.villiger on Thu, 10/14/2021 - 10:25

Der Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger Elias Canetti (1905–1994) besuchte von 1917 bis 1921 das Realgymnasium der Kantonsschule Zürich.

Es gibt in der Geschichte der Rämibühl-Gymnasien wohl niemanden, der die Schule lieber besucht und später mit grösserer Dankbarkeit an seine Schulzeit zurückgedacht hat, als Elias Canetti.

Elias Canetti während seiner Zürcher Schulzeit

 Elias Canetti während seiner Zürcher Schulzeit

Elias Canetti wurde 1905 in Rustschuk in Bulgarien in eine jüdische Familie hineingeboren. Die erste Sprache, die er lernte, war das Spanisch der sephardischen Juden, auch Spaniolisch oder Ladino genannt. Die Eltern sprachen gut Deutsch, verwendeten diese Sprache aber nur, wenn sie von den Kindern nicht verstanden werden wollten und brachten sie ihnen daher auch nicht bei. 1911 entschlossen sie sich dazu, nach Manchester umzuziehen, weil es ihnen in der Kleinstadt Rustschuk zu eng wurde. Nach dem plötzlichen Tod des Vaters mit nur 31 Jahren zog die Mutter 1913 mit den Kindern weiter nach Wien und schliesslich 1916 nach Zürich. Canetti lernte innert kürzester Zeit Englisch, Deutsch und – Schweizerdeutsch.

Nach einem Jahr Primarschule besuchte Canetti ab dem Schuljahr 1917/18 das Gymnasium der Kantonsschule Zürich an der Rämistrasse (zuerst im Gebäude der Alten Kantonsschule, dann auf dem Schanzenberg). Nach der zweijährigen Unterstufe musste er sich zwischen dem altsprachlichen Profil mit Griechisch (dem „Literar-Gymnasium“) und dem „Real-Gymnasium“ mit Latein und modernen Fremdsprachen entscheiden. Er wählte letzteres. Über seine Schulzeit, seine Lehrer und Mitschüler schreibt Canetti ausführlich im ersten Band seiner dreiteiligen Autobiographie, der 1977 unter dem Titel Die gerettete Zunge erschienen ist.

Canetti Cover Gerettete Zunge

Über den Schüler Canetti schreibt sein Biograph Sven Hanuschek:

Elias Canetti muss ein ungewöhnlicher Schüler gewesen sein. In den 13 Jahren seiner Schulzeit ist er auf fünf Schulen in vier verschiedenen Ländern gegangen. Trotz der Wechsel hatte er überall herausragende Ergebnisse […]. Vielleicht war die grenzenlose Neugier, die vom Erwachsenen überliefert ist, auch schon beim Kind vorhanden. Seine Erinnerungen an die Schulzeit sind fast durchweg positiv, für die Zürcher Jahre sogar begeistert […]. Angesichts der Schulgeschichten anderer Autoren der frühen Moderne ist Canettis Bild seiner Schulzeit durchaus ungewöhnlich.

In Zürich wohnten die Canettis zunächst an der Scheuchzerstrasse 68 im Kreis 6. Als die Mutter nach dem Ende des Ersten Weltkriegs wieder nach Wien umziehen wollte, weigerte sich der 14-jährige Canetti, weil ihm die Schule und ihre Lehrer so gut gefielen. Er durfte bleiben und wurde darauf während zwei Jahren als einziger Knabe im Mädchenpensionat Villa Yalta beim Bahnhof Tiefenbrunnen (Seefeldstrasse 287) einquartiert. Canetti ging in dieser Zeit ganz auf in geistigen Beschäftigungen, im Lernen, Lesen und Schreiben; er sprach später von der einzig wahrhaft glücklichen Zeit seines Lebens. Die Mutter wünschte sich für ihren Sohn aber eine härtere Lebensschule als das friedliche, harmonische Zürich und so musste Canetti noch vor der Matur nach Frankfurt am Main übersiedeln.

Villa Yalta Zürich-Tiefenbrunnen

Die einzig vollkommen glücklichen Jahre, das Paradies in Zürich, waren zu Ende. Vielleicht wäre ich glücklich geblieben, hätte sie mich nicht fortgerissen. Es ist aber wahr, dass ich andere Dinge erfuhr als die, die ich im Paradies kannte. Es ist wahr, dass ich, wie der früheste Mensch, durch die Vertreibung aus dem Paradies erst entstand.

Elias Canetti, Die gerettete Zunge

Canettis Abgangszeugnis 1921:

Fleiss: sehr gut

Fortschritt: sehr gut

Betragen: gut

Bemerkungen: Muss nach Deutschland.

(Matrikeleintrag im Schülerverzeichnis des Realgymnasiums Rämibühl)

Die Schuljahre in Zürich waren nicht ganz ungetrübt: Während einigen Monaten im Winter 1919/20 mussten Canetti und seine jüdischen Mitschüler antisemitische Sticheleien und Gehässigkeiten von Schulkameraden erdulden. Canetti verfasste eine Petition an den Rektor, die jedoch äusserlich ohne Wirkung blieb. Dennoch hörten die Sticheleien von einem Tag auf den andern plötzlich auf und schlugen gar in Herzlichkeit um. „Die Angriffe waren übrigens, wie ich später erfuhr, auf eine kluge Weise von oben abgestellt worden, ohne Lärm und Aufhebens.“

In Canettis Schulzeit am Realgymnasium fiel 1919 auch die Feier zum hundertsten Geburtstag von Gottfried Keller. Canettis Klasse musste sich eine Lobrede auf Keller in der Predigerkirche anhören. Canetti und einer seiner Mitschüler spotteten über Keller, den sie für eine Lokalberühmtheit hielten, ohne je etwas von ihm gelesen zu haben. Später wurde Canetti zum begeisterten Keller-Leser.

Hätte ich das Glück, im Jahr 2019 am Leben zu sein, und die Ehre, zu seiner Zweihundert-Jahr-Feier in der Predigerkirche zu stehen und ihn mit einer Rede zu feiern, ich fände ganz andere Elogen für ihn, die selbst den unwissenden Hochmut eines Vierzehnjährigen bezwingen würden.

Gerne hätte man diese Rede – vielleicht in der Aula Rämibühl – gehört im Jahr 2019.

Seine letzte öffentliche Lesung hielt Canetti 1983 an einer Feier zum 150. Jubiläum der Kantonsschule Zürich. Zwei Jahre zuvor war ihm der Nobelpreis für Literatur verliehen worden. Eigentlich wollte er damals schon gar keine Lesungen mehr geben, aber er fühlte sich der Schule, „die mich geprägt hat wie keine andere“, verpflichtet: „Ich wäre mir sonst als ein Monstrum der Undankbarkeit vorgekommen.“ C.V.

Elias Canetti in späteren Jahren

Adolf Muschg (geb. 1934), Schriftsteller

Submitted by christian.villiger on Sun, 09/05/2021 - 09:36

Der bekannte Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg (geb. 1934 in Zollikon) legte 1953 seine Matura am Literargymnasium ab (damals noch nicht auf dem Rämibühl-Areal). Nach einem Studium der Germanistik, Anglistik und Psychologie an den Universitäten Zürich und Cambridge arbeitete er von 1959 bis 1962 als Hauptlehrer für Deutsch an der Oberrealschule (der Vorgängerschule des MNG). Die Erfahrungen dieser Zeit gingen ein in den krimiartigen Roman Mitgespielt (1969), der von einem Deutschlehrer handelt, der in Verdacht gerät, einen seiner Schüler ermordet zu haben. Die damaligen Räumlichkeiten der Oberrealschule sind wiedererkennbar. Muschg arbeitete später als Dozent an verschiedenen Universitäten und von 1970 bis 1999 als Professor für deutsche Sprache und Literatur an der ETH Zürich.

Adolf Muschg 1975

Vor Kurzem blickte Muschg auf seine Zeit am LG zurück. Auf die Bemerkung eines Journalisten, sein neuer Roman setze die Kenntnis des ganzen europäischen Bildungskanons voraus, meinte Muschg:

 

«Die Vorlagen, die Sie nennen, sind nicht mehr Teile unseres kulturellen Alphabets. Ich habe es noch gelernt, nicht nur zu meinem Vergnügen. Aber was ich im Literargymnasium habe aufpacken müssen und damals als Last empfunden habe, entpuppt sich immer mehr als der wahre Schatz meines Alters.»

 

(NZZ am Sonntag, 1. August 2021, S. 43.) C.V.

Peter Szondi (1929-1971), Literaturwissenschaftler

Submitted by christian.villiger on Sun, 09/05/2021 - 09:25

Peter Szondi (1929-1971) war einer der einflussreichsten Literaturwissenschaftler des 20. Jahrhunderts. Szondi studierte in Zürich Germanistik bei Emil Staiger und wurde später Professor in Berlin. Nach dem Abschluss seiner Doktorarbeit (der rasch berühmt werdenden Theorie des modernen Dramas) arbeitete Szondi von 1955 bis 1959 als Lehrer unter anderem am Literargymnasium. Er wohnte zu dieser Zeit in unmittelbarer Nähe zur Schule an der Florhofgasse 3.

Szondi in einem Brief an seinen guten Freund Ivan Nagel über seine Tätigkeit als Lehrer (13. September 1957):

 

«Ich habe jetzt im Herbstquartal […] an der Neuen Schule 17, am Literargymnasium 4 Wochenstunden. Letztere bereiten mir immer mehr Freude, die Buben sind gescheit, fleissig und bereit, die Mischung aus Unterricht und Cabaret, die ich ihnen serviere, anzunehmen.»

Das LG war damals eine reine Knabenschule.

Peter Szondi 1962

Im selben Brief beschreibt er auch seine kleine Wohnung an der Florhofgasse:

 

«Ich wohne seit dem 1. September in einem Einzimmerappartement – wie das Zeug in Zürich heisst – also ein Zimmer mit separatem Badezimmer und Kochnische, die allerdings auch einen Eisschrank einschliesst. Also alles, was ich brauche, um völlig unabhängig zu sein, dazu sehr hübsch und auch sehr gut gelegen: an der Florhofgasse, […] unterhalb der Kantonsschule, beim Konservatorium. Das Fenster schaut auf zwei hübsche Barockhäuser, wenn ich morgens aufsteh, scheint mir, ich sei in einem Salzburger Hotelzimmer.»

Szondi wurde in Budapest als Sohn des berühmten Psychoanalytikers Leopold Szondi geboren. Unter der deutschen Besatzung Ungarns geriet die assimilierte jüdische Familie Szondi zunehmend in Gefahr, in ein Konzentrationslager deportiert zu werden. Sie wurde jedoch ausgewählt, im sogenannten Kasztner-Zug mitzufahren und so in Sicherheit gebracht zu werden. Rudolf Kasztner, ein jüdischer Anwalt, hatte mit den Nazis (genauer: mit dem Sonderkommando Eichmann) in geheimen Verhandlungen ausgehandelt, dass 1685 Juden aus Ungarn ins sichere Ausland auswandern dürfen. Im Gegenzug erhielten die Nazis Geld und Schmuck. Der von der SS beaufsichtigte Zug verliess Budapest Ende Juni 1944, gelangte aber zunächst nur bis zum Konzentrationslager Bergen-Belsen, wo die Szondis fünf Monate bleiben mussten. Trotz der gegenüber anderen Lagerinsassen privilegierten Situation als „Austauschjuden“ war es eine zutiefst demütigende und traumatisierende Erfahrung. Im Dezember 1944 gelangten die sogenannten „Kasztner-Juden“ schliesslich doch noch in die Schweiz. Die Schuldgefühle gegenüber den vielen, die den Holocaust nicht überlebt haben, werden Szondi sein ganzes Leben beschäftigen. Sie dürften wesentlich mitverantwortlich gewesen sein für seinen Suizid im Alter von 42 Jahren.

Peter Szondi ist auf dem Friedhof Fluntern in Zürich begraben. Eine unweit davon gelegene Wegverbindung heisst seit 2005 zur Erinnerung an ihn und seinen Vater «Szondiweg». An der Krähbühlstrasse 30 steht noch immer das von seinem Vater gegründete «Szondi-Institut» für Tiefenpsychologie und Schicksalsanalyse. C.V.

Gottfried Keller (1819-1890), Schriftsteller

Submitted by christian.villiger on Sat, 07/24/2021 - 05:32

Gottfried Keller (1819–1890) ist einer der bekanntesten deutschsprachigen Schriftsteller und der berühmteste ehemalige MNG-Schüler.

Salomon Hegi Porträt Gottfried Keller 1841

Genaugenommen besuchte Gottfried Keller von 1833 bis 1834 die gerade neu gegründete «Industrieschule», die 1928 zur «Oberrealschule» und 1974 zum «MNG Rämibühl» wurde. Das Schulhaus befand sich zu Kellers Zeit noch nicht auf dem Rämibühl-Areal, sondern beim Grossmünster. Heute steht dort das Theologische Seminar der Uni Zürich.

Keller wurde nach nur etwas mehr als einem Jahr von der Schule gewiesen, weil er sich an einer Randale gegen einen unbeliebten Lehrer beteiligt hatte. Die Schüler (damals nur Knaben) hatten sich zum Haus des Lehrers begeben, um unrechtmässig eingezogene Mathehefte zurückzuverlangen. Dabei kam es zu einer Schlägerei mit den Söhnen des Lehrers, das Haus wurde mit Steinen und Holzstücken beworfen, Scheiben wurden eingeschlagen. Keller wurde – zu Unrecht – als Anstifter angesehen und als Einziger hart bestraft. Man geht heute davon aus, dass der Schulverweis mit dem Scheidungsprozess von Kellers Mutter zusammenhängt. Die hohen Herren der Stadt wollten an ihr ein Exempel statuieren.

Für den 14-jährigen Keller bedeutete der Schulverweis, dass er aus der bürgerlichen Welt ausgeschlossen war. Seine Mutter konnte sich keine Privatschule leisten. Er versuchte sich zunächst als Kunstmaler, hatte jedoch wenig Erfolg, lebte jahrelang in ärmlichen Verhältnissen und litt zeitweise gar Hunger.

Gottfried Keller in seinem autobiographischen Roman Der grüne Heinrich (2. Fassung, 1. Band, 16. Kapitel):

«Ich wurde entlassen und ging etwas bewegt, doch gemächlich nach Hause; das Ganze schien mir nicht sehr würdig zu verlaufen. Zwar fühlte ich eine tiefe Reue, aber nur gegen den mißhandelten Lehrer. Zu Hause erzählte ich der Mutter den ganzen Vorgang, worauf sie mir eben eine Strafrede halten wollte, als ein Amtsdiener hereintrat mit einem großen Briefe. Dieser enthielt die Nachricht, daß ich von Stund an und für immer von dem Besuche der Schule ausgeschlossen sei. Das Gefühl des Unwillens und erlittener Ungerechtigkeit, welches sich sogleich in mir äußerte, war so überzeugend, daß meine Mutter nicht länger bei meiner Schuld verweilte, sondern sich ihren eigenen bekümmerten Gefühlen überließ, da der große und allmächtige Staat einer hilflosen Witwe das einzige Kind vor die Türe gestellt hatte mit den Worten Es ist nicht zu brauchen!»

Im selben Roman heisst es zusammenfassend:

«Ein Kind von der allgemeinen Erziehung ausschließen heißt nichts anderes, als seine innere Entwicklung, sein geistiges Leben köpfen.»

Auch das Rämibühl-Areal selbst war für Gottfried Keller wichtig. Hier stand seit 1843 die «Villa Sonneck» des hessischen Emigranten August Adolf Ludwig Follen, der Kellers schriftstellerische Laufbahn entscheidend förderte. Zugespitzt könnte man sagen: Ohne Follen und den Rämihügel wäre aus Keller vielleicht nie ein Schriftsteller geworden.

Die «Villa Sonneck» an der Rämistrasse 64 (heute: 68) wurde 1897 im Heimatstil stark umgebaut und in «Villa Tanneck» umbenannt. Diese steht heute noch, in ihr ist gegenwärtig das Klassisch-philologische Seminar der Uni Zürich untergebracht.

Rämibühl um 1850 Villa Sonneck Oberes Sonnenbühl

Ganz rechts die Villa Sonneck (mit Turm), das zweite Gebäude von rechts ist das «Obere Sonnenbühl». Im Vordergrund die Rämistrasse.

Als der 23-jährige Keller Ende 1842 erfolg- und völlig mittellos aus München nach Zürich zurückgekehrt war, wollte er zunächst immer noch Maler werden. Die Lektüre der politischen Vormärz-Lyrik eines Anastasius Grün und Georg Herwegh ergriff ihn jedoch nach eigener Aussage «wie ein Trompetenstoß» und inspirierte ihn zu eigenen Gedichten. Diese zeigte er zunächst Julius Froebel, einem seiner früheren Lehrer an der Industrieschule, der ihn dann mit Follen bekannt machte. Mit Unterstützung der beiden konnte Keller erste Gedichte in Zeitschriften und 1846 seinen ersten Gedichtband veröffentlichen. In den 1840er-Jahren hielten sich viele vor Repression und Zensur geflüchtete liberale Schriftsteller und Gelehrte in Zürich auf. Keller hatte Zugang zu dieser Emigrantenszene, unter anderem dank Follen.

Keller in einer „biographischen Skizze“ vom 22. März 1847:

«Als ich einen ziemlichen Pack Reimereien beieinander hatte, überschickte ich sie Professor Follen und bat ihn mit angstvoller Erwartung um Entscheidung über Sein oder Nichtsein dieser Versuche […], denn er ist zu seiner grossen Unbequemlichkeit das Orakel der poetischen Anfänger in der Schweiz geworden»

Ein zwischen Juli und August 1843 geführtes Tagebuch gibt Auskunft über diese für Keller schwierige Zeit, in der er nach der ihm zukommenden Aufgabe in der bürgerlichen Gesellschaft suchte und sehr unsicher über seine schriftstellerische Begabung war.

10. August

Gedichte ins Reine geschrieben, weidlich geraucht und grosse Unruhe und Unbehaglichkeit empfunden.

Die Sache ergreift mich mit allen Fibern. Ob sich wohl meine äusserlichen und ökonomischen Hundstage in innerliche, geistige Gewittertage verwandeln?

 

11. August

Nichts getan.

Ein deutscher Vormärz-Emigrant war auch Georg Büchner, der während seines Zürcher Exils 1836/37 in unmittelbarer Nachbarschaft zu Keller in der Altstadt gewohnt hatte. Keller wohnte damals im „Haus zur Sichel“ am Rindermarkt 9. Gekannt haben sich die beiden wohl nicht. Die Werke Büchners hat Keller erst um 1880 gelesen; er reagierte darauf jedoch mit Ablehnung.

Fast alle wichtigen Schauplätze von Gottfried Kellers Leben und Wirken befinden sich in Schrittdistanz zum Rämibühl-Areal: zum Beispiel das Geburtshaus («Haus zum goldenen Winkel», Neumarkt 27), das Haus seiner Kindheit («Haus zur Sichel», Rindermarkt 9), das Wohnhaus des Staatschreibers (Kirchgasse 33), das Keller von 1861-75 bewohnte, und das Haus «Zum Thaleck» (Zeltweg 27), in dem er von 1882 bis zu seinem Tod lebte.

Auf der Webseite https://www.gottfriedkellerzuerich.ch/ kann man einen virtuellen Rundgang durch Kellers Zürich machen und sich über die diese und weitere Häuser und Orte kundig informieren. Abbildungen von Kellers Häusern finden sich auf der Seite der Gottfried Keller-Gesellschaft Zürich: https://gottfriedkeller-gesellschaft.ch/gottfried-keller/zuercher-wohnorte/

Die Kantonsschule Hottingen an der Minervastrasse 14 hiess früher Gottfried-Keller-Schule. Der Name wurde wohl gewählt, weil Keller im Verlauf seines Lebens gleich drei Wohnungen in unmittelbarer Nähe bewohnt hatte (Minervastr. 10, Gemeindestr. 27 [damals: Gemeindegasse 25] und im «Haus zum Thaleck», Zeltweg 27). Die Kanti Hottingen war jedoch nie Teil der Industrieschule, die Keller besucht hat, sie ist vielmehr aus der Handelsschule der früheren Höheren Töchterschule (heute: Kantonsschule Hohe Promenade) hervorgegangen. C.V.

Porträt Gottfried Keller Blanca Illi 2019

Gottfried-Keller-Porträt von der K+S-Schülerin Blanca Illi (2019).

Eduard Neuenschwander (1924-2013), Architekt

Submitted by ottavio.clavuot on Thu, 07/08/2021 - 12:54

In Zürich in ein grossbürgerliches, künstlerisch inspirierendes Milieu hinein geboren, verbrachte Eduard Neuenschwander während der Gymnasialzeit einen Grossteil seiner Freizeit damit, Kleinlebewesen und deren Lebensräume zu beobachten und zu zeichnen. Diese leidenschaftliche Beziehung zur Natur wurde auch für sein späteres architektonisches Schaffen prägend.

Neuenschwander Farbstiftzeichnung
„Schwärmerraupe auf Labkraut“, Farbstiftzeichung von Eduard Neuenschwander, 1948.

Durch den Klassenkameraden und Freund Andres Giedion wurde er zu einem häufigen Gast in dessen Elternhaus. Der Kunsthistoriker und Promotor des Neuen Bauens Sigfried Giedion und dessen Frau Carola Giedion-Welcker empfingen in ihrem Haus im Doldertal Künstler der Avantgarde, wie Hans Arp, Constantin Brancusi, Alberto Giacometti, Aldo van Eyck, Alfred Roth, Henry van de Velde oder Le Corbusier. Als Eduard Neuenschwander 1945 das Architekturstudium an der ETH aufnahm, wandte er sich bald gegen die gegenüber der progressiven Vorkriegsmoderne skeptische bis ablehnende Haltung der Professoren. Nach dem Studienabschluss erhielt er auf Empfehlung Giedions zusammen mit seinem Studienkollegen Rudolf Brennenstuhl (1925-2013) die Möglichkeit, 1949-52 im Atelier Alvar Aaltos in Helsinki zu arbeiten – eine für sein künftiges Verständnis des architektonischen Gestaltungsprozesses entscheidende Begegnung. Zurück in Zürich gründeten er und Brennenstuhl 1953 ein eigenes Architekturbüro, das sie bis 1962 gemeinsam führten. Neben der Projektierung von Einzelbauten beschäftigte er sich mit Fragen der Raum- und Siedlungsplanung, der Baustandardisierung und des Fertighausbaus. Mitte der 1950er Jahre initiierten Eduard Neuenschwander und die befreundeten Künstler Gottfried Honegger und Karl Schmid das Projekt einer einheitlich gestalteten Modell- und Künstlersiedlung in Gockhausen am Nordhang des Zürichbergs. Zwar blieb das Vorhaben Fragment, doch verwirklichten Architekten und Künstler in den folgenden fünfundzwanzig Jahren individuell Atelier- und Wohnhäuser in Gockhausen, darunter auch Neuenschwander selbst.

Neuenschwander Im Binzen
Neuenschwander am Schreibtisch in dem von ihm entworfenen Wohnhaus Im Binzen in Gockhausen, um 1970.

War bereits im eigenen Wohnhaus Im Binzen 1964-69 und in der Kantonsschule Rämibühl die Verbindung von Natur und Architektur ein zentrales Thema, so wurde seit Mitte der 1970er Jahre angesichts von Verstädterung und Umweltzerstörung die naturnahe Gestaltung von Aussenräumen zum vorherrschenden Anliegen in Neuenschwanders Schaffen. Er verstand Umwelt vom architektonischen Innenraum bis zur Grosslandschaft als ein dynamisches Netzwerk von Biotopen. Dieses Netzwerk als funktionierendes, gleichzeitig offenes Ganzes durch zerstörerische und aufbauende Interventionen anzulegen, betrachtete er als seine Aufgabe. Im Westteil des Parks der Universität Irchel setzte er diese Vision 1978-86 exemplarisch um. Wie Naturräume verdanken auch historische Bauten ihre Gestalt einem evolutionären Prozess – auch sie gehören zum Netzwerk der Lebensräume. Seit Mitte der 1950er Jahre hat sich Neuenschwander immer wieder um die Erhaltung, Renovierung und zeitgemässe Adaption historischer Bauten bemüht. In seinem Spätwerk wurde ihm dies zum intensiv verfolgten Anliegen. O.C.

Gockhausen, Einfamilienhaus Atelier 16
Wasserbecken, baubestandener Sitzplatz und Gartenfront des 1980-81 von Neuenschwander erbauten Einfamilienhauses Atelier 16 in Gockhausen.